Montenegro, der kleine große Vorreiter: Geht sich der EU-Beitritt 2028 aus?
Montenegro, Moment, womit zahlt man hier nochmal? Diese Frage poppt so manchem Reisenden in dem für Strandurlaube beliebten Land in den Kopf. Eine schnelle Google-Suche offenbart: Schon seit 2002 zahlt man hier mit dem Euro.
Wer in den Städten des kleinen Balkanlandes (600.000 Einwohner) unterwegs ist, könnte - mal von den zumindest abseits der Touristendestinationen noch immer vergleichsweise niedrigen Preisen abgesehen - glatt vergessen, nicht in der EU zu sein. Das hat nicht nur mit der Währung zu tun, sondern auch mit den Werteeinstellungen gerade junger Menschen.
Vergangenes Jahr erreichte die Unterstützung der Montenegriner für den EU-Beitritt mit fast 80 Prozent einen Rekordwert. Von einer solchen Zustimmung können Pro-Europäer in einigen Mitgliedsstaaten nur träumen. In Österreich etwa erachteten es Ende 2023 laut Eurobarometer-Umfrage lediglich 42 Prozent der Bevölkerung als positiv, Teil der EU zu sein – die niedrigste Zahl in der Union.
Aber wie steht es tatsächlich um den Beitritt Montenegros? Und wie sieht es mit dem restlichen Westbalkan aus?
Montenegro gilt derzeit als der große Vorreiter unter den neun Kandidaten (der Westbalkan ohne Kosovo sowie Georgien, Moldau, die Türkei und die Ukraine). Das betonte auch Österreichs EU-Ministerin Karoline Edtstadler vergangene Woche bei einem gemeinsamen Arbeitsbesuch mit Wirtschaftsminister Martin Kocher (beide ÖVP) in Podgorica mehrmals.
„Ich sehe große Chancen, dass Montenegro der EU als 28. Mitgliedsland beitreten kann“, so die Politikerin. Aktuell ist vom Jahr 2028 die Rede, das sei realistisch - vorausgesetzt, die aktuelle Regierung halte sich stabil. Viele Experten ordnen dieses Ziel als sehr ambitioniert, aber grundsätzlich machbar ein.
"Europa Jetzt!"
Bei den montenegrinischen Wahlen 2023 spiegelte sich der Beitrittswille der Bevölkerung wider: Zuerst gewann die neu gegründete Partei „Europa Jetzt!“ - der Name ist Programm - mit den beiden jungen Ökonomen Jakov Milatović und Milojko Spajić erst die Präsidentschafts-, dann die Parlamentswahl.
Das mit dem Machtwechsel einhergegangene Ende der mehr als 30 Jahre dauernden Ära von Langzeitherrscher Milo Djukanović stellte eine bedeutende Wende dar, auch im Hinblick auf den EU-Beitrittsprozess. Zwar führte der Sozialist Montenegro 2006 in die Unabhängigkeit, später in den Vorhof der EU und sogar in die NATO. Doch wegen seines autokratischen Regierungsstils, die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe sowie seiner regelmäßigen Attacken auf Journalisten gerieten die Verhandlungen mit Brüssel ins Stocken.
Justiz und Korruption - die großen Herausforderungen
Auch an Spajićs Regierung gibt es internationale Kritik - vor allem aufgrund der proserbischen und prorussischen Kräfte, die in seiner Koalition großen Einfluss haben. Gleichzeitig scheint sie den EU-Beitritt aber tatsächlich ernsthaft zu verfolgen. So einigte sich das neue Parlament nach Druck aus Brüssel auf einen Obersten Staatsanwalt, nachdem dieser Posten lange unbesetzt war. Und der Premier führte rasch Gerichte zur Korruptionsbekämpfung ein - einer jener Punkte, bei denen es in Montenegro sowie den anderen Westbalkan-Staaten noch viel aufzuholen gilt.
Aktuell liegt der Fokus in Podgorica auf den komplexen Verhandlungskapiteln 23 und 24: Justiz, Grundrechte, Recht, Freiheit und Sicherheit. Man hofft, hier schon in den nächsten Monaten möglichst viele der darin enthaltenen Zielvorgaben erfüllen zu können. Montenegro hat alle 35 Verhandlungskapitel geöffnet, bisher allerdings erst drei vorläufig abgeschlossen.
Westbalkan wieder im Fokus
Dass sich das Tempo im Beitrittsprozess jetzt offenbar erhöht, hat nicht nur mit innenpolitischen Bemühungen, sondern auch mit geopolitischen Umständen zu tun. Mit dem Krieg in der Ukraine und ihrem Kandidatenstatus seit 2022 sind die Erweiterungsperspektiven für den Westbalkan wieder stärker in den politischen Fokus gerückt. Kürzlich haben die EU-Staats- und Regierungschefs etwa offiziell die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Bosnien und Herzegowina beschlossen.
In Brüssel macht man sich zunehmend Sorgen über den gewachsenen russischen, aber auch chinesischen Einfluss in der Region. Auffallend ist beides in Serbien, wo viele gar nicht mehr zur EU wollen: Lediglich rund 30 Prozent der Bevölkerung befürworten den Beitritt dort noch. Das hat auch mit dem langen Zeitraum zu tun, den die Westbalkanstaaten nun schon im EU-Wartezimmer ausharren. Serbien hat seinen Beitrittsantrag 2009 eingereicht, Montenegro schon ein Jahr zuvor.
Ein baldiger Beitritt Montenegros - es wäre der erste nach Kroatien vor über zehn Jahren - könnte die EU-Verdrossenheit in manchen Ländern womöglich lindern und wäre ein sehr deutliches Zeichen an die Region, dass die EU sie noch immer will.
"Europa muss sich aufstellen"
Dahinter steht auch Österreich. Es sei „völlig klar“, so Edtstadler, dass die Integrationsprozesse auf dem Westbalkan vorangetrieben werden müssen: „Europa muss sich aufstellen, um geopolitisch betrachtet in der Welt bestehen zu können.“
Die Regierung pocht hier auf eine Eigenidee, die sogenannte graduelle Integration: Bereits vor ihrem Vollbeitritt sollen die Kandidatenländer stärker in europäische Politiken und Gremien eingebunden und so schrittweise in die Union geführt werden. In einigen Bereichen wird diese Strategie bereits umgesetzt, in Zukunft will man laut EU-Kommission noch stärker darauf setzen.
Wer könnte nach Montenegro beitreten?
Auf den möglichen Beitritt Montenegros könnte Stand jetzt bereits wenige Jahre später der Nachbarstaat Albanien folgen, meinen Experten. „Albanien müsste die Verhandlungen noch einmal deutlich intensivieren, aber grundsätzlich wäre ein Abschluss bis 2030 denkbar“, sagt etwa Florian Bieber von der Universität Graz. Als drittes Land könnte theoretisch Nordmazedonien folgen.
Noch länger dauern dürfte der Prozess wegen der innenpolitischen Spannungen für Bosnien und Herzegowina sowie wegen des politischen Schlingerkurses und der zunehmend autokratischen Politik von Präsident Aleksandar Vučić für Serbien. Der Kosovo ist noch gar kein offizieller Beitrittskandidat, nur ein potenzieller, und wird nach wie vor nicht von allen EU-Staaten anerkannt.
Es wird eine EU-Reform brauchen
Klar ist außerdem: Ein, zwei kleinere Länder wie Montenegro oder Albanien können wohl ohne Probleme beitreten. Bevor es zur großen Westbalkan-Erweiterung kommen kann, muss sich die EU jedoch selbst reformieren - gerade, wenn es um bevölkerungsreichere Staaten wie Serbien oder gar die Ukraine geht. Es stellen sich vor allem Budgetfragen, Veränderungen der Institutionen selbst stehen ebenfalls im Raum.
Sowieso laufend diskutiert wird das umstrittene Einstimmigkeitsprinzip. Edtstadler ist dagegen, es ganz zu kippen, etwa im Bereich der Erweiterung: „Wenn einer in einen Club von exklusiven 27 will, müssen 27 dafür sein.“
Auch Sanktionen hätten nach außen nur dann „volle Kraft und Wirkung“, wenn sie einstimmig beschlossen würden. Eine Reform an sich steht für die Ministerin außer Frage, bis zu einer Lösung werde es aber wohl noch mindestens zehn Jahre dauern. Die Debatte läuft bisher nur zögerlich an.
Der KURIER begleitete EU-Ministerin Karoline Edtstadler und Wirtschaftsminister Martin Kocher auf Einladung nach Podgorica, Anm.
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