Andere EU-Parlamentarier schreiben Bücher darüber, was sie im Laufe ihrer Karriere alles erreicht haben. Nico Semsrott hat eins darüber veröffentlicht, wie er gescheitert ist. Der Titel ist eine bezeichnende Anspielung: „Brüssel sehen und sterben“.
Der Hamburger ist „aus Versehen“ im EU-Parlament gelandet, wie er sagt: 2019 ist der selbst ernannte „traurigste Komiker der Welt“ für die Satirepartei „Die PARTEI“ eingezogen.
Nochmal antreten? "Auf gar keinen Fall!"
Fünf Jahre später hat er mit deren Vorsitzenden Martin Sonneborn gebrochen und scheint das Ende seiner Amtszeit gar nicht mehr erwarten zu können. Nochmal antreten? „Auf gar keinen Fall!“, so der 38-Jährige, der sein Markenzeichen, den schwarzen Kapuzenpulli, auch fürs EU-Parlament nicht abgelegt hat - und dafür offenbar auch mal vom ÖVP-Abgeordneten Othmar Karas gerügt wurde, wie er erzählt.
Im Buch, in Videos und auf Bühnen lässt er seine Zeit als Politiker nun Revue passieren. Das Europaparlament bezeichnet er als einen "schlechten Witz", Korruption werde dort meistens belohnt und Steuergeld verschwendet.
Sein größter Erfolg der letzten Jahre sei es gewesen, wieder aus dem Bett gekommen zu sein und über all das zu reden: Semsrott ist an Depressionen erkrankt. Wie es für ihn nach dem Ausscheiden aus der Politik weitergeht, weiß er noch nicht - und freut sich darüber.
Der KURIER hat den außergewöhnlichen Abgeordneten in Wien getroffen.
KURIER: Herr Semsrott, Sie kritisieren das EU-Parlament sehr scharf. Was stört Sie am meisten?
Nico Semsrott: Was ich mache, ist keine EU-Kritik, sondern eine Machtkritik. Wäre ich im Nationalrat, würde ich den auch kritisieren. Das EU-Parlament ist intransparent und erklärt schlecht, was es macht. Seine größte Schwäche ist aber, dass es nicht mächtig genug ist. Ich würde dem EU-Parlament Initiativrecht, also Gestaltungsmacht, geben. Derzeit darf es bei der Gesetzgebung mitmachen, aber nichts selbst auf den Weg bringen.
Verstärken Sie mit einigen Ihrer Aussagen nicht das ohnehin schon starke Desinteresse an der EU und diverse Austrittswünsche?
Ich glaube, dass EU-Gegner nach dem Konsumieren meiner Aussagen auch gegen die EU sind. Und ich glaube, dass Leute, die für die EU sind und vieles kritisch sehen, sich bestätigt fühlen. Meine Erfahrung, auch als Künstler, ist: Ich kann etwas raussenden und jeder sieht das dann durch seine eigene Brille. Deshalb glaube ich nicht daran, dass das, was ich mache, gefährlich ist - anders als viele um mich herum, die mich kritisieren.
Trotz allem fordern Sie dazu auf, wählen zu gehen. Warum?
Wieso „trotz“?
Trotz all dem, was Sie kritisieren.
Ich würde sagen: gerade wegen all dem, was ich kritisiere. Ein trauriger und negativer Ansatz kann meiner Ansicht nach viele Menschen abholen, trösten und motivieren.
Warum man wählen gehen sollte? Weil das am Ende und am Anfang das Entscheidende ist. Ich kann als Abgeordneter die Mehrheiten nicht ändern. Die einzigen, die das können, sind die Wähler und Wählerinnen.
Bei ihrer Show in Wien haben Sie gesagt, Sie freuen sich schon darauf, den „Scheißladen“ endlich zu verlassen. Manch andere Menschen würden Ihren Job gerne machen. Warum haben Sie nicht frühzeitig aufgehört, wenn er Ihnen so schlecht gefällt und es Ihnen nicht gut damit ging?
Zum einen glaube ich, dass die Menschen in Deutschland „Die PARTEI“ wegen mir gewählt haben. Als zweiter Spitzenkandidat hatte ich eine andere Verantwortung als jemand, der „mitreingewählt“ wurde. Und mir war klar: Von „Die PARTEI“ wäre niemand nachgekommen, der so wie ich regelmäßig zu den Abstimmungen geht. Aber ich habe mit meiner Therapeutin die ganze Zeit offen darüber diskutiert, ob ich abbrechen soll oder nicht. Am Ende habe ich es immer irgendwie gerade so ausgehalten.
Beppe Grillo in Italien, Wolodimir Selenskij in der Ukraine, Marco Pogo in Österreich - warum zieht es Komiker in die Politik?
Wahrscheinlich gibt es da einen Ansteckungseffekt. Und dann ist da natürlich eine große Frustration. Immer mehr Menschen fühlen sich von „seriösen“ Politikern nicht repräsentiert - egal, in welchem politischen Spektrum.
Auch da glaube ich nicht, dass Satiriker zu dieser Frustration beitragen, sondern nur von Leuten gewählt werden, die mit dem Rest schon abgeschlossen haben. Ein gutes Beispiel dafür ist Jón Gnarr in Reykjavik, Island: Der ist ja damals auch nur Bürgermeister geworden, weil es eine große Bankenkrise gab und etablierte Parteien viele Menschen enttäuscht haben. (Der Komiker Gnarr war von 2010 bis 2014 Bürgermeister der isländischen Hauptstadt, 2024 kandidiert er bei der Präsidentschaftswahl, Anm.)
Sie gestehen sich ein, vor allem zu Beginn Ihrer Arbeit im EU-Parlament zu wenig Ahnung über Politik gehabt zu haben. Sind Quereinsteiger im EU-Parlament zum Scheitern verurteilt?
Nein, ich sage ja auch, dass es Bundestags- und Landtagsabgeordneten genauso geht. Die EU-Politik ist so kompliziert und so anders, dass sie mit anderer „Profipolitik“ nicht vergleichbar ist. Alle, die gerade neu für das EU-Parlament kandidieren, haben keine Ahnung, was auf sie zukommt - egal, ob sie vorher im Nationalrat waren oder sonst wo.
Aber ich habe gemerkt, dass andere Quereinsteiger damit besser klargekommen sind als ich. Ich habe unterschätzt, wie wichtig Netzwerke und Absprachen sind. Das war auf jeden Fall naiv. Und ich habe gedacht, dass ich durch meine Bekanntheit mehr erreichen kann - und gemerkt, das Scheinwerferlicht bringt mir ohne Mehrheit nichts.
Man darf also als EU-Parlamentarier nicht naiv sein?
Doch, man muss unbedingt naiv sein, weil man es sonst gar nicht versucht. Es ist wie mit dem Hausbau: Man würde gar nicht damit beginnen, wenn man wüsste, was alles schiefgehen könnte und wie teuer es wird.
Martin Sonneborn tritt wieder für „Die PARTEI“ an. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm heute?
Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen. Ich bin nicht mehr von seinem Konzept überzeugt und glaube auch nicht, dass es im EU-Parlament eine Satirepartei braucht. Aus einer strategischen Sicht ist das Energieverschwendung. Es ist besser, wenn jemand wie er oder ich von außen coole, kritische Videos machen. Und je länger Sonneborn im EU-Parlament sitzt, desto weniger unterscheidet er sich von einem Profipolitiker.
Normalerweise versuchen Journalisten gern, mit der Frage „Was mögen Sie an Ihrem Job nicht?“ Kritik aus Politikern herauszukitzeln. Bei Ihnen stellt sich eher die Frage: „Was mögen Sie an Ihrem Job eigentlich?“
Ich bin ein Nerd, was Gerechtigkeit und Machtverteilung angeht. Ungerechtigkeit macht mich betroffen. Deshalb finde ich es schön, mir darüber Gedanken zu machen, und mit Leuten - Besuchergruppen im Parlament etwa - Ideen auszutauschen, wie das anders werden kann. Das ist sehr politisch. Politik ist für mich kein fester Rahmen oder irgendwelche Punktesysteme. Das ist Parlamentarismus. Parlamentarismus mag ich nicht, Politik liebe ich total.
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