Mark Schleifstein ist der "Umweltpapst" der führenden Zeitung in New Orleans. Seit fast 40 Jahre schreibt der von seinen Kollegen bei der Times Picayune liebevoll "Schleifi" gerufene preisgekrönte Experte über Stürme und Fluten. Und darüber, dass seine Stadt im Zuge steigender Meeresspiegel/Klimawandel irgendwann wahrscheinlich ganz untergehen wird. Als diese Zeitung von Schleifstein am Sonntagabend wissen wollte, wie brutal der Anschlag von Hurrikan "Ida" vor Ort wirklich ausgefallen ist und ob eine Überflutung verhindert werden kann, musste er passen.
Die Zerstörungskraft des Wirbelsturms, der nach Angaben des Nationalen Hurrikanzentrums (NHC) in Miami zu den gewaltigsten zählt, der jemals die Küsten Louisianas erreicht hat, bescherte New Orleans und seinen knapp 400.000 Einwohnern ab 19 Uhr totalen Stromausfall. "Sorry, mein Telefon gibt gerade den Geist auf”, schrieb Schleifstein, "warte jetzt auf den Generator."
Was der altgediente Reporter bis dahin auf der Internetseite seines Blattes gemeinsam mit Kollegen im Stunden-Takt veröffentlicht hatte, wirkte ebenso dramatisch wie die Live-Bilder diverser Web-Kameras im Stadtgebiet: Bäume, die wie Streichhölzer umknicken. Hausdächer, die binnen Sekunden abgedeckt werden. Aus dem Rahmen gedrückte Fensterscheiben an diversen Bürogebäuden. Umgefallene Mülltonnen, die vom Wind wie Geschosse durch die Luft gewirbelt werden. Große Schiffe, die wie Nussschalen auf den aufgepeitschten Wellen tanzen. Landstraßen, die sich in Flüsse verwandeln.
Selbst die Bourbon Street im berühmten Amüsier-Viertel French Quarter soff binnen kurzer Zeit ab. Jim Cantore, Amerikas bekanntester Fernseh-Wetterfrosch, holte es bei einer Live-Übertragung sogar von den Beinen. Da war es noch hell. Bis 21 Uhr saßen fast eine Million Menschen in Louisiana stromausfallbedingt in der Dunkelheit. Um diese Zeit wurde auch das erste Todesopfer gemeldet. Ein umgestürzter Baum war die Ursache.
Der zur Mittagszeit als Kategorie 4-Hurrikan mit Windgeschwindkeiten von fast 240 km/h an Land gegangene Sturm wurde am frühen Abend auf die Kategorie 3 herabgestuft, was Windgeschwindigkeiten um 190 km/h beschreibt. Dazu kamen Unmengen von Regen - vereinzelt fielen bis zu 40 Zentimeter. Das Hurrikan-Zentrum warnte in der Nacht vor einer „lebensgefährlichen Sturmflut”. Größenordnung bis zu sechs Meter!
"Gehen Sie jetzt - oder bunkern Sie sich ein”
Gouverneur John Bel Edwards und New Orleans` Bürgermeisterin LaToya Cantrell hatten zuvor mit Engelszungen auf die Bürger eingeredet. "Gehen Sie jetzt - oder bunkern Sie sich ein.” Tausende kamen den Warnungen rechtzeitig nach, flüchteten in Richtung Texas oder ins Landesinnere. Auf den Ausfallstraßen bildeten sich kilometerlange Staus, Tankstellen ging der Sprit aus.
Abertausende entschlossen sich dagegen, wie schon frühere Wirbelstürme auch "Ida" tapfer auszusitzen. Feuerwehr und Notärzte hofften am Abend, dass sich die Zahl der Verletzten oder Hilfebedürftigen in Grenzen hält. Um New Orleans grassiert gerade die Delta-Variante. Fast sämtliche Betten in den Spitälern sind mit Corona-Patienten belegt. Für Sturm-Opfer ist, so sagte ein Arzt im Fernsehen, „so gut wie kein Platz”.
Glimpflich ging in diesem Zusammenhang eine Komplikation im Thibodaux-Krankenhaus südlich von New Orleans aus. Weil sowohl Strom als auch Generatoren ausgefallen waren, mussten Corona-Kranke, die an Beatmungsgeräte angeschlossenen waren, zeitweilig manuell von Pflegern und Ärzten mit Sauerstoff versorgt werden.
Über das ganze Ausmaß der Zerstörung, die eingedenk der Hartnäckigkeit von „Ida” nach vorläufigen Behörden-Angaben „immens sein wird”, gab es bis zum späten Sonntagabend keine verlässlichen Angaben. Gouverneur Edwards sagte, dass man voraussichtlich erst an diesem Montag mit etwaigen Sucheinsätzen beginnen könne.
In der mit am stärksten betroffenen Gegend rund um Grand Isles hatten 75 Anwohner früh um Rettung gebeten. „Der Sturm", sagte die zuständige Bürgermeisterin Lee Sheng, „lässt das einfach nicht zu.”
Besonders beunruhigt sind Offizielle wie Umweltschützer über den Zustand von rund 600 Lagerstätten chemisch-toxischer Substanzen, die im Pfad von „Ida” liegen.
Aktive Risikominderung betrieb unterdessen schon vor dem Landfall des Hurrikans die Öl-Industrie. Im Golf von Mexiko wurden fast 300 Bohr-Plattformen evakuiert, die Produktion ging um fast 100 Prozent zurück. Weshalb die Benzinpreise in den nächsten Wochen in Louisiana empfindlich steigen werden, wie Verbraucherverbände prophezeien.
Präsident Joe Biden, in Washington vollauf mit der Krise in Afghanistan beschäftigt, ließ sich regelmäßig unterrichten und versprach den Menschen im Süden: „Sobald der Sturm vorübergezogen sein wird, werden wir die ganze Macht dieses Landes für Rettung und Wiederaufbau einsetzen.”
Unterdessen ließ der Zeitpunkt der neuerlichen Natur-Katastrophe viele der für Aberglauben empfänglichen Bewohner von „NoLa” stutzen: „Ida” kam auf den Tag genau exakt 16 Jahre nach „Katrina” in die Stadt, die wegen ihrer Lebenslust und Leichtigkeit noch immer „Big Easy” genannt wird.
Am frühen Morgen des 29. August 2005 behandelte der Sturm New Orleans erst als Fußabtreter. Und danach wie eine Waschmaschine, die nach dem Schleudergang vergisst, das Wasser wieder abzulassen.
Windgeschwindigkeiten bis zu 200 Stundenkilometer schoben zehn Meter hohe Flutwellen über den Golf von Mexiko in den Lake Pontchartrain - und von dort in die Kanäle von New Orleans. An 54 Stellen hielten Dämme, Deiche und Fluttore der Urgewalt nicht stand. Binnen Stunden standen fast 80 Prozent des Stadtgebiets, das man sich im Mississippi-Delta wie den tiefen Teil eines Suppentellers vorstellen muss, unter Wasser. Über 1800 Menschen starben. 400 000 verloren für Monate, Jahre oder immer ihr Zuhause.
Der Sachschaden wurde auf 130 Milliarden Dollar taxiert. Die Behörden vor Ort wie in Washington waren mit der Dimension des Desasters vollkommen überfordert. Bürgermeister Ray Nagin erwies sich als unfähig. Präsident George W. Bush hatte nur seinen „Krieg gegen den Terror“ im Sinn. Seine Katastrophenschutz-Leute von der „Fema“ machten Fehler um Fehler. Die Fotos von verzweifelt in auf Hilfe aus dem Hubschrauber wartenden Menschen auf den Dächern ihrer Häuser gingen um die Welt. In den Fluten versanken Menschen, Recht und Ordnung.
Plünderungen waren an der Tagesordnung. Die Nationalgarde rückte an. Lebensmittel und Trinkwasser waren Mangelware. Amerika, die Supermacht, glich über Wochen einer Bananen-Republik. Später stellte sich heraus, dass das für die Deiche verantwortliche „Ingenieurkorps der Armee” komplett versagt und die Katastrophe mit herbeigeführt hatte. Es gab haarsträubende Konstruktions-Mängel, Fehler bei der Berechnung der Dammhöhen und einen unglaublichen Schlendrian beim Unterhalt des veralteten Schutzsystems.
Seither wurden insgesamt 15 Milliarden Dollar in neue Deiche, ein gewaltiges Pumpwerk, etliche Fluttore und eine fast drei Kilometer lange und 1,60 Meter hohe Staumauer investiert, um die unter dem Meeresspiegel liegenden Metropole, die vor über 300 Jahren gegründet wurde, vor einer erneuten Flutkatastrophe wie damals zu schützen. Ob das System, auf das die Stadtoberen stolz sind, „Ida” standhielt, wird sich laut Bürgermeisterin Cantrell erst heute wirklich beurteilen lassen.
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