Neuanfang oder Neuwahl: Italiens Premier vor Vertrauensvotum
Bleibt Mario Draghi doch italienischer Premier – oder geht er am Mittwoch nach rund 17 Monaten im Amt? Fragt man Italiener auf der Straße nach ihrer Meinung, breiten die meisten die Arme aus, schauen zum Himmel und sagen: „Das weiß nur der liebe Gott.“
Entscheiden wird allerdings das Parlament in Rom, wie der Präsident der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, am Montag mitteilte.
Draghi wolle sich am Mittwoch einer Vertrauensabstimmung stellen, nachdem er die Abgeordneten über die aktuelle Regierungskrise informiert habe, sagte er.
Petition und Demos
Ausgelöst hatte den Streit in der Sechs-Parteien-Koalition vergangenen Donnerstag die Enthaltung der größten Regierungspartei, der Fünf-Sterne-Bewegung, bei einem Vertrauensvotum im Senat.
Verliert Draghi das nun angesetzte Votum am Mittwoch, drohen Neuwahlen. Laut Umfragen lehnt eine überragende Mehrheit der Italiener diese ab und möchte, dass Draghi weiter das Ruder in der Hand hält.
Eine von Ex-Premier Matteo Renzi lancierte Petition, die Draghi im Amt halten soll, wurde bereits von knapp 100.000 Menschen unterzeichnet (Stand Montagabend).
Herr Luciano, mit dem der KURIER in Mailand sprach, hat bisher Silvio Berlusconis Partei Forza Italia gewählt. Frau Anna wählt seit eh und je linksliberal. Bei einem Kaffee diskutieren die beiden über die „Unfähigkeit unserer Politiker, egal aus welcher Partei“. Und sind ausnahmsweise einer Meinung: „Ohne Draghi geht das Land den Bach runter. Die Glaubwürdigkeit, die er uns in Europa und weltweit wieder verschafft hat, wäre weg.“
Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bischöfe
Mit dieser Ansicht sind Luciano und Anna nicht allein. In Mailand und Rom fanden am Montag Solidaritätskundgebungen zum Verbleib Draghis im Premiersamt statt. Die Initiative kam von einem römischen Studenten.
Auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände drängten Draghi, es sich zum Wohle des Landes noch einmal zu überlegen und von seinem angekündigten Rücktritt abzusehen. Selbst die italienische Bischofskonferenz plädierte für eine Fortbestehen des Kabinetts Draghi.
Die zur nationalpopulistischen Lega gehörenden Präsidenten der Regionen Lombardei, Veneto und Friaul Julisch-Venetien sowie 1.000 Bürgermeister verschiedenster Parteien unterschrieben ein Bittgesuch an den Premier.
In einem Interview erklärte der linksliberale Bürgermeister von Turin, Stefano Lo Russo, warum er sich an der Aktion beteiligt hat: „Wer eine Gemeinde oder Stadt verwaltet, ist sich bewusst, was diese Krise jetzt und für die Zukunft bedeutet.“
Wirtschaftskrise droht
Lo Russo weist auf die horrenden Energiekosten und die Inflation hin, auf die Pandemie und natürlich auf den Krieg in der Ukraine. Er fürchtet auch um die Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU. „Wir müssen bis Ende des Jahres zig Projekte fertigstellen und rechtzeitig in Brüssel abgeben“, warnt er. Sonst würde die nächste Tranche von 22 Milliarden Euro aus dem Fonds nicht ausgezahlt.
All diese Probleme werden schwerwiegende Folgen auch auf die wirtschaftliche Lage im Land haben. Nach EU-Angaben soll Italiens Bruttoinlandsprodukt 2023 nur um 0,9 Prozent wachsen. Italien würde damit wirtschaftlich wieder zum schwächsten Land in der Eurozone.
Brüssel fürchtet, dass eine Wirtschaftskrise infolge der politischen Krise die ohnehin geschwächte Eurozone destabilisieren könnte – und es scheint den Glauben daran verloren zu haben, dass die italienischen Parteien das Schlamassel allein beenden können.
"Historischer Moment"
Deswegen versuchte man zuletzt direkt auf Draghi einzuwirken. Frans Timmermans, stellvertretender EU-Kommissionspräsident, erklärte: „Sein Beitrag in diesem schwierigen historischen Moment ist nicht nur für Italien, sondern auch für die EU von entscheidender Wichtigkeit.“
Der parteilose Mario Draghi, Ex-Chef der Europäischen Zentralbank, steht seit Februar 2021 einer Sechs-Parteien-Koalition vor. Draghis Vorgänger war Giuseppe Conte von der Fünf-Sterne-Bewegung, der stärksten Kraft des Bündnisses. Er musste im Zuge einer Regierungskrise zurücktreten.
Derartige Wechsel haben in Italien seit dem Zweiten Weltkrieg Tradition. Im Schnitt erfolgen sie alle 14 Monate.
67Regierungen zählte das Land insgesamt seit 1946. Das Kabinett Draghi ist die bereits dritte Regierung in der laufenden Legislaturperiode (2018 bis 2023).
Auch Roberta Metsola, Vorsitzende des EU Parlaments, sprach sich ausdrücklich für Draghis Verbleib aus. Laut Medien sollen sich zudem etliche europäische Kanzler persönlich beim Premier gemeldet haben.
Gehen oder Bleiben?
Die Fünf Sterne, die die Regierungskrise ausgelöst haben, sind indes in der Frage gespalten, wie sie weiter vorgehen sollen. Ein Flügel um Parteichef und Ex-Premier Giuseppe Conte fordert den Austritt aus der Regierungskoalition, ein anderer den Verbleib.
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