Mariana (Name von der Redaktion geändert) ist noch ein Teenager. Spricht sie, wirkt sie älter. Ihre Stimme ist leise, aber bestimmt. Auf Fragen antwortet sie kurz, sachlich, pragmatisch. Wie sie sich fühlt, das ist per Telefon nur schwer herauszuhören. Darüber redet sie nicht gern, sie hat etwas anderes zu erzählen: die tragische Geschichte ihrer Familie.
Bis vor einem Dreivierteljahr war Mariana eins von ungefähr 35.000 Kindern, die in der Republik Moldau ohne Eltern aufwachsen, weil diese im Ausland arbeiten. Bei 150.000, gut 20 Prozent aller Minderjähriger, ist mindestens ein Elternteil weg.
Seit vielen Jahren schon ziehen moldauische Mütter und Väter in EU-Länder – besonders häufig nach Italien, Frankreich oder Deutschland. Dort verrichten sie in der Regel körperlich anstrengende Arbeit, etwa als Pflegekräfte oder Bauarbeiter, um ihre Familien zu finanzieren. Moldau gilt als eines der ärmsten Länder Europas, das Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet rund 560 Euro pro Monat.
Mariana war 13, als ihre Eltern vor fünf Jahren die Heimatstadt Nisporeni, 80 Kilometer westlich von Chisinau, verließen und nach Venedig gingen. Die Tochter brachten sie mit den drei jüngeren Geschwistern bei Bekannten unter – der Kleinste war damals gerade mal ein Jahr alt. Etwas später kamen die Kinder in ein Heim.
Auch Älterere gehen
Vor einigen Jahren noch war es üblich, dass Eltern ihren Nachwuchs bei den Großeltern ließen, wenn sie gingen. Das ändert sich, auch immer mehr alte Menschen müssen arbeiten.
Ältere Kinder blieben auch früher schon allein zurück, kümmern sich um die Jüngeren. In Moldau werden die zurückgelassenen Kinder „Copii singuri acasa“ genannt – die Allein-zu-Hause-Kinder. Auch Mariana und ihre Geschwister hatten keine Verwandten in Moldau mehr, die waren ebenfalls ausgewandert.
So vergingen Jahre, in denen die vier mit der restlichen Familie nur übers Handy sprachen. „Meinen Vater habe ich zwei oder drei Jahre nicht gesehen“, erinnert sich Mariana zurück. Er habe so viel zu tun gehabt auf dem Bau. Die Mutter, die verschiedene Jobs hatte, sei öfter gekommen – einmal im Jahr. Die Abschiede seien besonders schlimm gewesen, aber: „Es war notwendig. Das habe ich verstanden.“
Seither ist für Mariana und ihre Familie viel geschehen. 2021 starb die Mutter. Woran, darüber will das Mädchen nicht reden. Vor neun Monaten folgte Mariana ihrem Vater dann nach Venedig. Mit anderen Menschen teilen sie sich dort eine Wohnung. Sie arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel, er noch immer als Bauarbeiter. Sie sehen sich nicht viel, arbeiten gegengleich.
Geschwister noch in Moldau
Das Leben hier gefalle ihr eigentlich, sagt Mariana. Doch die zwei Schwestern und der Bruder seien noch immer im Heim in Moldau: „Sie vermissen mich sehr. Aber sie haben dort, was sie brauchen.“ Wann sie die drei besuchen kann, das weiß sie nicht.
„Es wäre wichtig, dass sie sich bald alle wiedersehen“, sagt Nani Pavel. Für die NGO Concordia leitet er das Heim, in dem Mariana fünf Jahre gelebt hat. Für ihre Familienzusammenführung gibt es einen Plan, ihr Umzug nach Venedig war der erste Schritt. Als Nächstes soll der jüngste Sohn nach Italien gebracht werden.
Die Angst vor dem Krieg
Zusammenführungen seien schon immer das Ziel seines Teams gewesen, sagt Nani Pavel. Doch seit Russland 2022 in die Ukraine einmarschierte und die Situation auch in Moldau unsicherer wurde (siehe Infobox), beobachte er: „Eltern, die es sich leisten können, holen ihre Kinder zu sich oder gehen nicht mehr ohne sie.“
Transnistrien: Viele der 2,6 Millionen Moldauer haben Angst, dass der Krieg im Nachbarland Ukraine sich auf Transnistrien ausweiten könnte. Das ist ein schmaler Landstreifen zwischen Moldau und der Ukraine. Völkerrechtlich gehört er zu Moldau, doch das Sagen hat dort vor allem Russland.
Marianas größter Wunsch ist ein Haus: „Für meine Geschwister, meinen Vater und mich.“ In Italien? „Nein, in Moldau.“ In Italien seien zwar die Lebensbedingungen besser, Moldau aber sei ihr Zuhause.
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