Warum ist der "Anti-Gandhi" in Indien so populär, Mithu Sanyal?

Warum ist der "Anti-Gandhi" in Indien so populär, Mithu Sanyal?
Die Bestseller-Autorin diskutiert die ewige Frage gewaltsamer oder gewaltloser Widerstand. Und erklärt, wie der Hindunationalismus in Indien groß wurde.

Mit einer riesigen Militärparade in Neu-Delhi feiert Indien am Sonntag seine 75-jährige Eigenständigkeit: Am 26. Januar 1950 trat die Verfassung des neu gegründeten Indiens in Kraft. Es ist einer der zwei wichtigsten Staatsfeiertage in der größten Demokratie der Welt.

Mit der Eigenständigkeit Indiens beschäftigt sich auch die deutsche Autorin und Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal in ihrem aktuellen Buch "Antichristie". Sie war für eine Lesung, organisiert vom VIDC Global Dialogue, unlängst in Wien. In dem Roman lässt sie die beiden Antipoden des indischen Unabhängigkeitskampfes im London Anfang des 20. Jahrhunderts "auferstehen": die Friedensikone Gandhi, der für gewaltlosen Widerstand plädierte, und den "Anti-Gandhi" Savarkar, Begründer des Hindunationalismus und Verfechter des gewaltsamen Widerstands – und dessen Erbe der indische Premierminister Modi heute weiterträgt.

KURIER: In Ihrem Roman reist der weibliche Hauptcharakter in der Zeit, und landet im Körper eines jungen Mannes. Ist dieser Geschlechtswandel dem Zeitgeist geschuldet?

Mithu Sanyal: Menschen lieben diese Szene, die mit einer Masturbation einhergeht, oder sie hassen sie. Eigentlich war dieser Sex-Change deswegen notwendig, weil sonst der weibliche Hauptcharakter Durga nicht 1906 in die ausschließlich von Männern bewohnte Revolutionsstätte India House in London hätte einziehen können. Erst später habe ich gemerkt: Diese Verwandlung findet sich auch im Hinduismus, in dem nichts unendlich ist, nicht einmal der Tod – und erst recht nicht das Geschlecht.

Vinayak Savarkar, der Begründer des Hindunationalismus, spielt im Buch eine wichtige Figur, der man sehr nahe kommt. Er wird von ethnonationalen Politikern wie Modi verehrt und soll an der Planung des Attentats auf Gandhi beteiligt gewesen sein. Hatten Sie keine Angst vor einer Verherrlichung?

Das war meine größte Sorge! Genauso viel Angst hatte ich aber davor, ihn als das eindimensionale Böse darzustellen. In Indien wird er oft der "Hindu-Hitler" genannt und dieser Vergleich greift – wie nahezu jeder Hitler-Vergleich – einfach zu kurz. Man kann Savarkars Ideologie eindeutig in Teilen als faschistisch bezeichnen, aber sie ist sehr anders als der Nazi-Faschismus. Savarkar wollte die Muslime nicht vernichten wie Hitler die Juden, er wollte sie zu Hindus machen.

Im Laufe meiner Recherche habe ich gemerkt, dass dieses Böse ein Mensch mit Geschichte ist, mit großen Traumata, einem noch größeren Charisma – und dass es Aspekte an seiner Politik gibt, die ich sogar teile: Savarkar wollte das Kastenwesen komplett abschaffen. Da war er viel progressiver als Gandhi. Genauso lieferte er überlegte Gründe für gewaltsamen Widerstand.

Warum ist der "Anti-Gandhi" in Indien so populär, Mithu Sanyal?

Narendra Modi an Gandhis Geburtstag an dessen Gedenkstätte in Rajghat in Neu-Delhiam 2. Oktober 2024.

Sie gehen in Ihrem Roman auch mit einer andere Ikone des indischen Unabhängigkeitskampfs sehr kritisch um, nämlich Mahatma Gandhi.

Gandhi war schon immer so wichtig für mich. Gleichzeitig weiß ich inzwischen über seine dunklen Seiten, wie seinen Rassismus gegenüber schwarzen Südafrikanern. Und dann gibt es diesen unglaublichen Brief, in dem er ja den Juden angesichts des Holocausts empfahl, ohne Widerstand in die KZs zu gehen. Fairerweise muss man sagen, dass er das selber so getan hätte. Gandhi hat zutiefst an das geglaubt, was er gemacht hat. Auch hier lautet die Erkenntnis: Es ist alles viel komplexer als es scheint.

Dass Modis BJP eine hindunationalistische Agenda führt, ist ein offenes Geheimnis, man erinnert sich an die gewaltsamen Mobs gegen Muslime. Wie stünde Savarkar zur hindunationalistischen Politik Modis?

Ich hoffe, dass er abgestoßen davon wäre. Aber sicher bin ich mir da nicht, schließlich mochte Savarkar Macht und man kann nicht leugnen, dass Modi ein Machtpolitiker ist. Er hat die konservativsten und rechtesten Aspekte von Savarkars Politik übernommen, diese nochmal verschärft – und die progressiven ignoriert.

Warum ist dieser Hindunationalismus so groß geworden?

Nach der Unabhängigkeit Indiens erschien die Kongresspartei von Gandhi und Nehru allmächtig. Sie haben das Land wie eine Erbmonarchie regiert und ihre Geschichtsschreibung durchgesetzt. Dadurch wurde ein Teil der Geschichte, wie die gefallenen Revolutionäre, verdrängt. Das spielte der BJP heute ins Narrativ. Jetzt schreibt die BJP halt die Geschichtsbücher um. Wir sehen bei uns ähnliche Aushandlungsprozesse, dazu muss man nicht einmal auf die AfD schauen, die das natürlich am krassesten betreibt. Auch die Ampel-Regierung hat gerade die Forschungsstellen zu kolonialer Vergangenheit geschlossen und die Opfer des deutschen Kolonialismus offiziell aus der Erinnerungskultur gestrichen. Die Vergangenheit ist das am meisten politisch umkämpfte Terrain.

Was kann man von Savarkar oder Gandhi heute noch lernen?

Mir ging es in meinem Roman darum, zu zeigen, wie unterschiedlich die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven aussieht, und wie wichtig es ist, diese unterschiedlichen Perspektiven an einen Tisch zu kriegen. In London haben die indischen Revolutionäre eng mit der IRA zusammengearbeitet, man hatte schließlich den selben Feind. In Indien galten die Iren dagegen als Briten, also als die zu bekämpfende Kolonialmacht.

Am Ende des Romans führen Gandhi und Savarkar darüber ein Gespräch, das ist auch historisch belegt. Meine Conclusio daraus ist: Es wird niemals ausschließlich bewaffneten oder ausschließlich gewaltfreien Widerstand geben. Aber der Widerstand, den wir leisten, muss die Gesellschaft, die erschaffen werden soll, in sich enthalten, und diese Gesellschaft muss eine gewaltlose und egalitäre sein.

Warum ist der "Anti-Gandhi" in Indien so populär, Mithu Sanyal?

Die deutsche Autorin und Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal, 1971 in Düsseldorf geboren. 2009 erschien ihr Sachbuch "Vulva. Das unsichtbare Geschlecht", 2021 ihr erster Roman "Identitti", der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde.

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