Wie Wolodimir Selenskij seine größte Rolle anlegt
Für lockeren Umgang mit dem eigenen, 120 Jahre alten Regelwerk ist das Komitee für den Friedensnobelpreis nicht bekannt. In diesem Jahr aber führe kein Weg daran vorbei, gibt sich eine 36-köpfige Gruppe aktiver und ehemaliger europäischer Spitzenpolitiker überzeugt. Der Einreichungstermin für Kandidaten sei zwar schon am 31. Jänner verstrichen, doch der Krieg rechtfertige eine Ausnahme – und einen neuen Kandidaten: Wolodimir Selenskij. Der Präsident und mit ihm die Ukrainer könnten in Anbetracht dieser "beispiellosen Situation" nicht übergangen werden.
David und starker Mann
Für den Präsidenten eines Landes, das gerade in Schutt und Asche gelegt wird, mag die Aussicht auf den Friedensnobelpreis wie eine unpassende Pointe wirken, doch es macht deutlich, welche beeindruckende politische Statur der 44-Jährige in diesen Kriegswochen bekommen hat. Selenskij, einst als Schauspieler auf das seichte, heitere Fach abonniert, ist nicht nur zum unumstrittenen Anführer seines Landes geworden, er verkörpert auch persönlich den eisernen Willen und den Mut der Ukrainer in diesem Krieg.
Selenskij im Porträt: Vom Kabarettisten zum Kriegspräsidenten
Während sein Gegenüber, Wladimir Putin, zur Maske erstarrt ist, der die ganze russische Propaganda kein Leben mehr einhauchen kann, hat Selenskij die Rolle übernommen, die Putin so gerne verkörpert: Der souveräne Präsident für seine Landsleute und auf der Weltbühne. Der David, der dem russischen Goliath entgegentritt, ist jetzt der starke Mann in diesem Konflikt.
In Tarngrün vor dem Kongress
Und auf eben dieser Weltbühne hat der Ukrainer in dieser Woche Galavorstellungen gegeben – alle mit stehendem Applaus belohnt. Selenskijs Schauspielkunst war – wie von einem TV-Star zu erwarten – simpel, aber effektiv.
Schon bei seinen täglichen TV-Auftritten aus dem umkämpften Kiew hat Selenskij das Tarngrün seiner T-Shirts und Hemden zum Markenzeichen gemacht. In exakt dieser Aufmachung trat der Präsident in diesen Tagen per Video vor den US-Kongress, das Londoner Unterhaus und den deutschen Bundestag. Direkt aus der Kampfzone – so die klare Botschaft – sprach also er zu den Entscheidungsträgern der westlichen Welt. Das EU-Parlament hatte er schon Tage zuvor überwältigt.
Selenskij hielt keine politischen Grundsatzreden, sondern er kam mit persönlichen Emotionen und der ebenso persönlich formulierten Bitte um Unterstützung für sein Land. Und um diese Emotionen bei seinem jeweiligen Publikum anzubringen, bediente er sich ausführlich bei den zeithistorischen Leitmotiven und Mythen jedes einzelnen Landes. In London etwa nahm er sich Winston Churchills historische "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede aus dem Jahr 1940 zum Vorbild: "Wir werden bis zum Ende kämpfen, zur See und in der Luft. Wir werden weiter um unser Land kämpfen, koste es, was es wolle."
Wolodimir Selenskij Spricht zum US-Senat und dem deutschen Bundestag
Sein oder Nichtsein? Sein!
Damit nicht genug, bemühte der Präsident auch noch die wohl berühmteste Frage der britischen Literatur, nur um sie – anders als Hamlet – sofort zu beantworten. "Die Frage für uns ist jetzt, zu sein oder nicht zu sein. 13 Tage lang hätte diese Frage gestellt werden können. Aber jetzt kann ich eine Antwort geben. Es ist definitiv ja, zu sein."
Für den US-Kongress hielt er gleich zwei Traumata aus Kriegszeiten bereit: Den Angriff auf Pearl Harbour und jenen auf das World Trade Center vom 11. September 2001. In Pearl Harbour sei der "Himmel schwarz" gewesen, "von den Flugzeugen, die Sie angriffen", und am 11. September habe "das Böse versucht, die Städte der USA in Schlachtfelder zu verwandeln. Unser Land erlebt das Gleiche, jeden Tag, jetzt in diesem Moment."
Der deutsche Bundestag wiederum bekam seine eigenen oft rituellen Warnungen vor Krieg und Vernichtung zurückgespielt: "Jedes Jahr wiederholen die Politiker: Nie wieder! Und jetzt sehen wir, dass diese Worte einfach nichts wert sind. In Europa wird ein Volk vernichtet."
Allesamt keine schauspielerischen Großleistungen. Aber der einstige TV-Komödiant Selenskij, der schon in seiner TV-Serienrolle als tollpatschiger Präsident sein Publikum für sich gewonnen hatte, schafft es jetzt wieder. Die Abgeordneten von Washington bis Brüssel feierten ihn, der Übersetzer im EU-Parlament brach bei laufendem Mikrofon in Tränen aus.
Und mit Simon Godwin, dem Direktor der New Yorker Shakespeare Company, gönnte ihm ein wirklich großer Theatermann sogar eine begeisterte Kritik: "Er ist in gewisser Weise zum weltgrößten Schauspieler geworden, der sich mit der tiefsten Wahrheit der Welt beschäftigt."
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