Wie Selenskij mit seinem Stil ein neues Politikerbild prägt
Als sich Emmanuel Macron vor einigen Tagen ungewohnt leger mit Dreitagebart und Kapuzenpulli im Elysée-Palast ablichten ließ, hatten Twitter-Nutzer rasch eine Erklärung parat: Frankreichs Präsident möchte seinen ukrainischen Amtskollegen nachahmen, der mit seinem Stil und Auftreten mitten im Kriegsgebiet ein neues Politikerbild prägt.
Während Wolodimir Selenskij in seiner ersten Rede nach Kriegsbeginn noch ganz staatsmännisch Anzug trug, tritt er nun stets in khakifarbenen T-Shirts und Fleecejacken vor die Kamera, sichtlich übernächtigt und unfrisiert, als wäre er eben dem Bunker entstiegen. „Es sind intime und zarte Szenen, die trotz der militärischen Kleidung nichts Aggressives haben“, analysiert der Philosoph Björn Vedder, der sich in seinem Essay „Zäher Softbody“ mit dem Körperbild Selenskijs befasst.
Einer von uns
Was macht der Ex-Komiker anders als andere Politiker? „Selenskij erweckt den Eindruck, wir hätten es mit einem echten Menschen zu tun, der uns sagt, was er denkt und fühlt. Er zeigt sich als normaler Bürger, der die gleichen Hoffnungen und Ängste hat wie seine Landsleute und keine Allüren kennt“, sagt Vedder. "Er kann über sich lachen, wie etwa das Familienfoto zeigt, auf dem sein Sohn und er Superheldenschminke tragen."
Nicht nur Kleidung und Gesagtes, auch seine körperliche Präsenz schafft Solidarität. „Wir sind es gewohnt, dass ein starker Charakter in einem harten Körper sitzt. Kontrolliert, abgeschlossen, über die Dinge erhaben“, erklärt Vedder. „Selenskij bricht damit. Sein Körper scheint offen und verletzlich. Er sucht die Verbindung zu anderen, reagiert auf sie. Das weckt Gefühle von Zusammengehörigkeit.“
Inszenierung
Auch diese Körperhaltung sei ein Stück weit inszeniert. "Er nutzt ihn als eine Waffe im Kampf gegen Putin, und das sehr effektiv. Sehr viele sind bereit, sich mit der Ukraine zu verbrüdern und gegen Putin zu stellen. Das nützt der Ukraine und das schenkt denen, die sich verbünden, ein starkes Gefühl von Gemeinschaft, das viele begeistert. Diese Begeisterung ist das Resultat eines Körperbildes, das nicht individualistisch ist, sondern gemeinschaftlich."
Zwar sei es immer wieder vorgekommen, dass Politiker Fehler zugeben, ihr Visier öffnen und sich nahbarer zeigen. "Dieses Ausmaß erscheint mir aber doch neu", sagt Vedder. Selenskijs Verhalten treffe den Zeitgeist auch abseits des Krieges. "Wir merken langsam, dass wir Probleme wie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Spaltung oder den Klimawandel mit unseren gängigen Vorstellungen nicht lösen können. Denn wir sind keine Kugeln, die ihre individuellen Bahnen ziehen, sondern auf vielfache Weise miteinander verbunden. Wenn wir das realisieren, verändert sich unsere Vorstellung weg vom geschlossenen individuellen Körper und hin zum offenen, gemeinschaftlichen Körper."
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