Militärexperte zur Ukraine: "Der nächste Schlag wird schon vorbereitet"
Die Zeichen für eine weitere Eskalation verdichten sich: "Alle ukrainischen Truppen sollen sich freiwillig aus dem Oblast (Verwaltungsbezirk, Anm.) Lugansk zurückziehen", forderte die Separatistenregierung der selbst ernannten "Volksrepublik Lugansk" am Dienstag.
Stunden zuvor hatte der russische Präsident Wladimir Putin Lugansk und Donezk völkerrechtswidrig anerkannt und befohlen, russische Truppen in die Gebiete zu schicken. Seit einer weiteren Rede Putins am späten Dienstagabend ist klar: Er hatte tatsächlich die Unabhängigkeit der gesamten Oblaste verkündet. Die Grenzen der neuen unabhängigen Republiken sollen „wie zu dem Zeitpunkt, an dem sie noch Teil der Ukraine waren“, festgelegt sein, so Putin.
Immer wieder überrascht
Der Flächenunterschied ist groß: Zusammen haben die Separatistengebiete eine Fläche von 17.279 Quadratkilometern – etwa die Fläche der Steiermark. Beide Oblaste zusammen sind 53.200 Quadratmeter groß – das sind etwa die Steiermark, Wien, Ober- und Niederösterreich sowie das Burgenland. Dass Putin also Anspruch auf diese Gebiete erhebt, kommt eigentlich einer Kriegserklärung an die Ukraine gleich.
Putin hat das Heft des Handelns in der Hand: "Würden die ukrainischen Streitkräfte versuchen, die Separatistengebiete und damit auch die russischen Streitkräfte anzugreifen, würden sie im Prinzip Selbstmord begehen", sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, zum KURIER. Der geballten Wucht der russischen Streitkräfte sei die ukrainische Armee nicht gewachsen, militärische Hilfe der NATO gilt als ausgeschlossen oder erfolgt nur im geringen Umfang.
Zwar haben sich die ukrainischen Streitkräfte im Gegensatz zu 2014 verbessert, doch nach wie vor weisen sie viele Schwachstellen auf: Pro Armeeangehörigem sind die Ausgaben unter den tiefsten in ganz Europa, was sich direkt auf Bezahlung und Qualität der Unterkünfte auswirkt. Mehr als 2,5 Milliarden Dollar haben die USA in die ukrainischen Streitkräfte investiert: Drohnen, Nachtsichtgeräte und Javelin-Anti-Panzer-Lenkwaffen. Zwar genießt das Militär – im Gegenzug zur Politik – hohes Vertrauen, doch im Vergleich zu Russland darf man sich keine Illusionen machen.
Wir haben in den vergangenen Wochen versucht, rational zu sein, und wurden immer wieder überrascht
Drohnen und Artillerie
Auch die gelieferten Waffen haben allenfalls Verzögerungscharakter und können den russischen Streitkräften im Ernstfall wenig bis nichts entgegensetzen. Greift Russland an, ist dieser Angriff geplant, das Feindgebiet aufgeklärt. "Man kann sich sicher sein, dass bereits Spezialkräfte auf ukrainischem Gebiet unterwegs sind", sagt Reisner und nennt ein Beispiel aus der Vergangenheit: "Am 24. August 2014 – übrigens der ukrainische Nationalfeiertag – erfolgte erstmalig ein massiver russischer Einmarsch in die Ostukraine. Zuvor wurde eine ukrainische Brigade zerschlagen. Die Soldaten hatten ihr Feldlager im freien Gelände, sahen sogar die russischen Aufklärungsdrohnen, wussten aber nicht, was auf sie zukommt. Wenig später folgte massiver Artilleriebeschuss."
Mehrfachraketenwerfer, Rohrartillerie, ballistische Raketen – all das könnte bei einer militärischen Eskalation zum Einsatz kommen. Reisner: "Ich könnte mir vorstellen, dass man diesen Eröffnungsschlag mit einem massiven Artilleriefeuer beginnt, um dem Westen seine massive Waffengewalt zu zeigen, auf der anderen Seite aber, um die ukrainische Verteidigung zu zersprengen und dann massiv vorzustoßen."
Harter Schlag
Einen Angriff auf Kiew hält Reisner derzeit zumindest für fraglich: "Was würde es Putin nützen, eine solche Stadt zu belagern oder gar einzunehmen? Das kann nur die Folge einer weiteren Eskalation sein." Nicht ausschließen will der Generalstabsoffizier im Extremfall auch starke Auflösungserscheinungen der ukrainischen Streitkräfte nach einem ersten, heftigen Vorstoß russischer Einheiten. "Wenn es zu heftigen Verlusten oder der Gefahr einer Einkesselung kommt, kann dieser Schneeballeffekt eintreten. Wir haben das in Afghanistan gesehen, wo man überzeugt war, dass die dortigen Streitkräfte länger standhalten können."
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