Es ist wohl einer der bemerkenswertesten Auftritte, die Putin in seiner nun 22-jährgen Karriere an der Spitze Russlands abliefert, und das nicht im positiven Sinne. Das betrifft sowohl die Inszenierung, die frappant an das alte Zentralkomitee-Abnicken erinnert, als auch der Inhalt. "Selbst Stalins Reden zur internationalen Politik waren näher an der Wahrheit", schreibt etwa Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Münchner Bundeswehr-Universität. Tatjana Stanowaja, Chefin vom Think Tank R.Politik und eine der profiliertesten und bestvernetzten russischen Politikwissenschaftlerinnen, analysiert, er agiere abgehoben und habe sich "auf die dunkle Seite der Geschichte geschlagen".
Sie ist mit dieser Einschätzung nicht ganz allein. Viele russische Beobachter waren irritiert über die vielen bizarren Details der letzten Tage, von den plump gefälschten "Beweisen" für Angriffe der ukrainischen Seite im Donbass bis hin zur Zahlenmystik und der Olympiafixierung des Präsidenten. Dass die kriegerischen Auseinandersetzungen in Georgien 2008, um die Krim 2014 und jetzt im Donbass alle rund um Olympische Spiele begannen, belächelten Beobachter bisher; ebenso wie die Tatsache, dass der Georgienkrieg ausgerechnet am 8.8.2008 begann. Dass das russische Außenministerium seit Kurzem auf Twitter ein Symbolbild hat, dass den 22.2.2022 zeigt – also just jenen Tag, an dem Putin seine Donbass-Einmarschpläne verkündete – , ist aber wohl mehr als eigenartig.
Man hat den Eindruck, Moskau spiele ein Spiel, bei dem der Westen eigentlich nur Statist ist. Seit Wochen folgt der Kreml einem genau durchgetakteten Drehbuch, das – ganz in alter KGB-Manier – fast unabhängig von den Reaktionen des Westens weiter verfolgt wird. Menschen dienen dabei als Verschubmasse, etwa jene Russischsprachigen, die vor laufenden TV-Kameras in Bussen zur Evakuierung aus dem Donbass Richtung Russland gekarrt wurden.
Zentral ist dabei aber ein anderes Bild. Putin, der allein auf der einen Seite eines Sechs-Meter-Tisches sitzt; Putin, der allein auf einer menschenleeren Tribüne der Olympia-Eröffnung sitzt; Putin, der seit Beginn der Pandemie unter Ansteckungsangst allein an seinem Schreibtisch in seinem Bunker sitzt. Im russischen Internet wird über die Abschottung Putins gewitzelt, aber der Rückzug Putins hat bedenkliche Folgen: Seine Meinung speist sich mittlerweile nur mehr aus Ratschlägen von ihm geneigten politischem Personal – und das ist sehr überschaubar.
Putin ereilt das klassische Schicksal alternder Machthaber, die mittels aggressiver Außenpolitik versuchen, die eigene Bevölkerung ruhig zu stellen. Innerhalb Russlands kämpft man mit fallenden Realeinkommen, Wirtschaftsflaute und einer endlos scheinenden Coronawelle. Zwar gibt es keine nennenswerten Proteste, das liegt aber freilich auch daran, dass jegliche Form von Opposition in den letzten Jahren so massiv unterdrückt wurde wie noch nie zuvor in Putins Amtszeit. "Innerhalb Russlands hat Putin derzeit keinen politischen Gegner", sagt Stefan Meister, Ost-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik. Getrieben sei er von der Angst vor einer Revolution im eigenen Land, so wie eben in Georgien und der Ukraine. "Die speist sich aus der Paranoia der Elite, die schon sehr lange an der Macht ist."
Was das für die Zukunft heißt, da sind sich die Experten nicht so sicher. Der US-Militäranalyst und Putin-Kenner Michael Kofman sagte kürzlich, Putin habe in den vergangenen drei Jahren so viele rote Linien überschritten, von denen er nie gedacht hätte, dass er sie überschreiten würde. Selbst ein großer Krieg in Europa ist für ihn nicht ausgeschlossen.
Tatjana Stanowaja ist da optimistischer. Putin überschätze massiv die Unterstützung der Bevölkerung für sein Tun, meint sie. Und das sei der "Anfang vom Ende seines Regimes".
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