Lulas turbulente Jahre: Vom Präsidenten zum Häftling und zurück
Es waren Szenen, wie sie Luiz Inácio da Silva eigentlich schon kannte. Der 77-Jährige, der - typisch brasilianisch - stets mit seinem Spitznamen "Lula" gerufen wird, ist am Sonntag mit einem hauchdünnen Vorsprung von gerade einmal 0,9 Prozent zum dritten Mal zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden. Und doch lässt sich dieser Wahlsieg mit keinem seiner vorigen vergleichen.
"Ich werde ein Präsident für alle 215 Millionen Brasilianer sein. Es gibt keine zwei Brasilien, nur ein Volk", rief Lula am Sonntagabend vor tausenden Unterstützern auf der Paulista Avenue in seiner Heimatstadt São Paulo. Ihm ist bewusst, wie stark der hasserfüllte Wahlkampf mit seinem rechtsextremen Widersacher Jair Bolsonaro das Land gespalten hat. Den Riss, der die politische Landschaft Brasiliens in zwei Teile teilt, wieder zusammen zu fügen, dürfte die größte Aufgabe Lulas kommender Amtszeit werden.
Doch der Linke hat aus Sicht seiner Anhänger schon in seinen ersten beiden Amtszeiten als Präsident das Unmögliche möglich gemacht. Lula gilt als eine der bedeutendsten politischen Figuren der jüngeren brasilianischen Geschichte. Aus der Arbeiterschicht São Paulos arbeitete er sich bis in den Präsidentenpalast hinauf, 2017 wurde er zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt und landete im Gefängnis. Nun ist er erneut designierter Präsident, nachdem seine Haftstrafe aufgehoben wurde. Wer ist der Mann, der in seiner Heimat derart polarisiert?
Symbol der Arbeiterschicht
Lula wurde als siebtes von acht Kindern im verarmten Nordosten Brasiliens geboren, wuchs anschließend aber in der Industriestadt São Paulo auf. Dort verließ der Vater die Familie für eine neue Frau, Lula musste mit sieben Jahren schon gemeinsam mit seinen Geschwistern als Schuhputzer arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die Schule brach er mit 15 Jahren ab, um in einer Metallfabrik als Arbeiter anzufangen.
Dort verlor Lula bei einem Unfall früh einen kleinen Finger an die Zahnräder einer Maschine. Seine linke Hand steht seither symbolisch für die einfachen Verhältnisse, aus denen er stammt, und wird von seinen Anhängern noch heute als Zeichen dafür gewertet, dass Lula die Leiden der Arbeiterschicht am eigenen Leib erfahren musste.
Von einem Freund zu einem Gewerkschaftstreffen geführt, begann Lula in seinen Zwanzigern, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Er stieg schließlich während der Militärdiktatur in Brasilien in den Siebziger Jahren zum Vorstand der Metallergewerkschaft auf. Als er 1980 einen großen Streik in mehreren Großstädten organisierte, wurde er für 31 Tage inhaftiert.
Im Gefängnis soll Lulas Entscheidung gefallen sein, in die Politik zu gehen. Nach seiner Freilassung gründete er gemeinsam mit anderen Gewerkschaftern die Partido dos Tabalhadores (PT) - auf Deutsch: Partei der Arbeiter - und zog nur sechs Jahre später, nach dem Ende der Diktatur, als Abgeordneter in das Parlament ein.
"Lulas Wirtschaftswunder": Brasilien wird reich
Seit 1989 trat Lula für seine PT bei jeder Präsidentenwahl an. Doch erst 2002, als er erstmals bewusst auf sein Arbeiterimage verzichtete und mit Anzug und Krawatte auftrat, gelangte er in die Stichwahl - und gewann umgehend gegen José Serra, einen Sozialdemokraten.
Oberstes Ziel seiner Präsidentschaft war die Bekämpfung extremer Armut und Hungers. Dabei hatte Lula großen Erfolg. Innerhalb der vier Jahre seiner ersten Amtszeit verringerte sich der Prozentsatz jener, die in Brasilien unterhalb der Armutsgrenze lebten, von 40 auf 20 Prozent.
Als "Held der Favelas" bezeichnet, war sich Lula damit auf Jahre hinaus vor allem der Unterstützung der armen Bevölkerung im Norden und Nordosten Brasiliens sicher. Das sicherte ihm auch 2006 seine deutliche Wiederwahl (61 Prozent) gegen den Sozialdemokraten Geraldo Alckmin.
Obwohl sich viele Industrielle zuvor noch vor einem linken Präsidenten gefürchtet hatten und Lula in Anspielung an den venezolanischen Autokraten medial als "brasilianischer Hugo Chávez" bezeichnet worden war, erlebte Brasilien unter seiner Präsidentschaft einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufstieg. Das Land stieg zur achtgrößten Volkswirtschaft der Welt und zur mit Abstand größten Lateinamerikas auf.
Kritiker sagen heute, ohne Lula wäre der Aufschwung wohl genauso gekommen, schließlich hätte sein Vorgänger Fernando Cardoso die Weichen dafür gelegt. Doch in dieser Phase hatte Lula Umfragen zufolge eine Zustimmungsrate in der Bevölkerung jenseits der 80 Prozent. Seine designierte Nachfolgerin als Parteichefin der PT, Dilma Roussef, wurde 2010 direkt zur Präsidentin gewählt.
Korruptions-Affäre um Odebrecht
Dann folgte der große Knick in Lulas Karriere. Von 2011 an arbeitete die brasilianische Justiz intensiv an der Aufarbeitung eines Korruptionsskandals. Dabei soll seine Partei sich während Lulas erster Amtszeit Stimmen bei Abgeordneten der Opposition erkauft haben. Je prominenter die Befragten wurden, desto häufiger fiel Lulas Name während deren Aussagen. Schließlich brachte ihn das mit einem weiteren Korruptionsfall in Verbindung.
Als Präsident soll Lula dem brasilianischen Bauriesen Odebrecht lukrative Aufträge verschafft haben - im Inland wie im Ausland. Als Gegenleistung soll der Konzern kostenlose Bauarbeiten in dessen Appartement im Wert von mehr als 1,1 Millionen US-Dollar durchgeführt haben.
Lula bestreitet die Anschuldigungen bis heute vehement und sprach stets von einem politisch motivierten Verfahren, das ihn daran hindern sollte, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 antreten zu können - dabei beschuldigte er vor allem den zuständigen Bundesrichter Sergio Moro, sich mit seinen politischen Widersachern abzusprechen.
Die Ermittlungen führten schließlich zu einem politischen Skandal: Am 4. März 2016 führten mehr als 200 Polizeibeamte eine Razzia in Lulas Haus am Stadtrand von São Paulo durch, der Ex-Präsident wurde dabei vorübergehend festgenommen und verhört. Eine Woche später erklärte die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff, Lula zum Ministerpräsidenten ernennen zu wollen - ein Amt, das ihm Immunität verliehen und ihn damit vor der drohenden Strafverfolgung geschützt hätte. Brasiliens Oberster Gerichtshof, das Supremo Tribunal Federal, verhinderte den Schritt deshalb.
Haftstrafe und Fernduell mit Richter Sergio Moro
Am 12. Juli 2017 sprach Richter Moro schließlich ein Urteil: 12 Jahre Haft für Lula, den er der Korruption und Bestechung für schuldig befand. Der Ex-Präsident musste damit ins Gefängnis, ein Jahr später siegte der Rechtsextreme Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen - und ernannte Sergio Moro zum Justizminister.
Während seiner Haft wurde Lula von führenden internationalen Politikern besucht, darunter der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Auch der US-Philosoph Noam Chomsky besuchte Lula und nannte ihn "einen der bedeutendsten politischen Gefangenen unserer Zeit".
Nur ein Jahr später veröffentlichte das US-Medium The Intercept von Moro verschickte Textnachrichten, die belegen sollen, dass der Richter sich mit führenden Polizeibeamten und Staatsanwälten sowie Vertrauten Bolsonaros bezüglich der Ermittlungen gegen Lula abgesprochen habe, um dessen Kandidatur bei den Wahlen 2018 zu verhindern. Die Enthüllungen erhöhten den Druck auf Moro massiv, er blieb aber noch fast ein Jahr im Amt, bis er Anfang 2020 nach einem Zerwürfnis mit Bolsonaro zurücktrat.
In der Zwischenzeit hatte der Oberste Gerichtshof Moro schon kurz nach dem Intercept-Bericht für befangen erklärt und Lulas Haftstrafe aufgehoben. In den folgenden Monaten wurden auch die vier Korruptions-Urteile gegen den inzwischen 74-Jährigen annulliert. Als Lula am 7. November 2019 das Gefängnis in Curitiba verließ, sagte er vor einer jubelnden Menge: "Ich gehe ohne Hass. Mit 74 Jahren ist in meinem Herzen nur Platz für die Liebe, denn die Liebe wird in diesem Land siegen."
Hass-Wahlkampf mit Bolsonaro
Mit dem Moment seiner Freilassung arbeitete Lula gemeinsam mit seiner Partei intensiv an einer Kandidatur für die Präsidentschaftswahl in diesem Herbst. Weil die Aufhebung der Urteile gegen ihn aus formellen Gründen erfolgte und deshalb rechtlich keinen Freispruch darstellt, war zunächst unklar, ob Lula überhaupt antreten dürfte. Sein amtierender Widersacher Bolsonaro bezeichnete ihn deshalb mehrfach als "korrupt" oder "Verbrecher" und versuchte, seine Kandidatur zu verhindern - doch Lula bekam seinen Willen und durfte antreten.
Die Vorgeschichte ließ den Wahlkampf der beiden Erzfeinde erwartet schmutzig werden. Beide Kontrahenten sahen in dem jeweils anderen den Kopf eines korrupten Systems, dass eine Präsidentschaft des Gegenübers verhindern wolle: Lula wähnte Bolsonaro als Drahtzieher hinter seiner Verhaftung, Bolsonaro behauptete dagegen, das politische Establishment in Brasilien versuche alles, um seine zweite Amtszeit zu verhindern.
Gerade die brasilianischen Wahlautomaten - es ist das einzige Land weltweit, in dem ausschließlich elektronisch gewählt wird - rückten ins Zentrum von Bolsonaros Kritik. Auch die Wahlumfragen, in denen Lula meist deutlich führte, bezeichnete der amtierende Präsident als "gefälscht" - und erklärte mehrfach, er würde eine Wahlniederlage nicht anerkennen.
Nach einem ersten Wahlgang, in dem die Stimmenanteile der beiden deutlich näher beieinander lagen, als es Prognosen vorhergesagt hatten, folgten vor der Stichwahl einige hitzige TV-Duelle. Lula gab sich in diesen Wochen deutlich gemäßigter und versuchte, auch abseits des linken Lagers zu punkten. In einem offenen Brief an die streng religiösen Evangelikalen des Landes, die mehrheitlich für den konservativen Bolsonaro stimmten, versprach Lula sogar, im Falle eines Wahlsieges das Abtreibungsrecht - entgegen seiner persönlichen Überzeugung - nicht zu lockern.
Am Sonntag erreichte Lula sein Ziel dann denkbar knapp: Mit 50,9 Prozent der Stimmen erlangte der 77-Jährige eine haarscharfe Mehrheit und wird damit nach für ihn persönlich enorm turbulenten elf Jahren erneut Präsident Brasiliens. Er übernimmt damit eine tief gespaltene Nation. Noch während des Wahlabends wurde ein feiernder Lula-Anhänger in einem Lokal in der Großstadt Belo Horizonte von einem Bolsonaro-Anhänger erschossen.
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