Jurema Santana, ihre Nachbarin im Ladenlokal von nebenan, sieht es komplett anders. „Ich habe nie für Lula gestimmt, bei der letzten Wahl habe ich Bolsonaro gewählt. Ich bin sehr enttäuscht von seiner Amtszeit. Ich denke, Lula kümmert sich mehr um die Armen. Ein Präsident muss das ganze Land sehen, nicht nur die Agrar-Industrie und die Reichen.“
Dass es überhaupt noch mal ein solch enges, spannendes Rennen um die Präsidentschaft gibt, hätte vor vier Wochen kaum jemand für möglich gehalten. Die führenden Umfrageinstitute lagen mit ihren Voraussagen kräftig daneben, schätzten den Rückhalt für Bolsonaro viel geringer ein, als er tatsächlich in der Wählerschaft ist. Lula kam auf rund 48 Prozent der Stimmen, Bolsonaro holte rund 43 Prozent. Wegen der krassen Differenz wirft das Bolsonaro-Lager den Umfrageinstituten vor, versucht zu haben, die öffentliche Meinung zugunsten von Lula zu manipulieren. In den sozialen Netzwerken und auf der Straße tobt ein harter Kampf. Für die Bolsonaro-Anhänger war das deutlich bessere Ergebnis ein Aufputschmittel, sie glauben wieder an eine realistische Chance.
Eine von den jungen, engagierten Bolsonaro-Influencerinnen ist Julia de Castro. Für ihre Unterstützung belohnte sie das Präsidentenpaar jüngst mit einem Foto. Innerhalb eines Tages sammelte die Geschichtestudentin über 70.000 Likes für ein Bild mit Präsidentengattin Michelle Bolsonaro, auch mit dem Amtsinhaber gab es einen Instagram-Schnappschuss: Wange an Wange.
Castro wirbt unablässig in den sozialen Netzwerken für eine Wiederwahl Bolsonaros: „Rechts zu sein ist kein Verbrechen“. Ihren 180.000 Followern berichtet sie, sie werde an der Universität politisch gemobbt und verfolgt, weil sie sich für Bolsonaro ausspreche.
Ganz anders sieht das Fatima Regina Lopes da Silva. Sie hat im Stadtzentrum einen Stand aufgebaut. Sie verkauft Lula-Taschen, Mützen und Aufkleber, ist seit dem Teenager-Alter eine aktive Anhängerin von Lulas linker Arbeiterpartei PT: „Lulas Regierung war die beste Regierung, die wir hier in Brasilien je hatten. Es waren wirklich die besten Jahre für uns hier, zumindest für mich.“
Wer in diesen Tagen durch die Straßen der großen Städte spaziert, erkennt schnell, für welchen Kandidaten das Herz schlägt. Kleine runde Aufkleber auf dem T-Shirt, aus den Hochhäusern flattern Badetücher, mit den Gesichtern der beiden Rivalen. Die Spaltung ist überall greifbar, es liegt Anspannung in der Luft. Was passiert, wenn es so knapp wird, dass der Unterlegene das Ergebnis nicht anerkennt, fragen sich viele. Das Lula-Lager wirft Bolsonaro vor, dann einen Militärputsch zu planen. Musikproduzent Glaucus Linxs, erklärt warum es nur einen Sieger geben darf: „Lula ist das Porträt des echten Brasiliens“, sagt Linxs: „Lula vertritt mich, er vertritt die Menschen aus dem Nordosten, die Schwarzen, die Indigenen, all jene, die von Brasilien und von der brasilianischen Gesellschaft im Grunde immer verachtet wurden.“
Von Verachtung spricht auch Bolsonaro-Anhängerin Karine. Lula-Anhänger hätten ihr Auto demoliert, wegen eines Bolsonaro-Aufklebers. „Die Linke spricht immer über Hassgerede, über Diffamierung. Dabei sind sie selbst die größten Beleidiger.“
Der Riss geht durch ganz Brasilien. Er spaltet ein Land in Katholiken und Evangelikale, in Reiche und Arme, Schwarze und Weiße, in Linke und Rechte – und fast alle reden nur noch übereinander, nicht mehr miteinander.
Was von diesem Wahlkampf bleibt, sind tiefe Narben von Beleidigungen, von Beschimpfungen und übelsten Angriffen. Von Satanismus, Kannibalismus, Pädophilie ist da die Rede. Wie der Wahlsieger nach diesem Wahlkampf ein Präsident des ganzen brasilianischen Volkes sein will und kann, ist im Moment nur schwer vorstellbar.
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