Der rote Kontinent: Lateinamerika wendet sich nach links
Viele junge Menschen in Kolumbien atmeten am 19. Juni auf: Gustavo Petro, Sozialist und ehemaliger Guerilla-Kämpfer, wurde mit 50,47 Prozent haarscharf zum ersten linken Präsidenten des Landes gewählt. Dem historischen Ereignis waren ein wochenlanger Wahlkampf gegen den rechten Millionär Rodolfo Hernández voller Drohungen und Untergriffe sowie ein Wahlabend mit zwei Toten vorausgegangen.
Kolumbien ist nicht das einzige Land der Region, in dem ein Regierungswechsel unruhig vonstattenging. Auch in Mexiko, Argentinien, Peru, Chile und Honduras gewannen in den letzten Jahren linke Kandidaten nach aufgeheizten Wahlkämpfen gegen ihre jeweiligen rechtspopulistischen Gegner. Mal mehr, mal weniger knapp – doch die Richtung ist klar: Lateinamerika rückt gesammelt nach links.
Der Kolumbianer Petro steht mit seinen Wahlversprechen beispielhaft für das, was sich viele in der Region wünschen: Er kündigte eine Vermögenssteuer und eine Pensionsreform an, will auf lange Sicht eine staatliche Gesundheitsversicherung bereitstellen und den Umweltschutz vorantreiben.
Die linke Wende ist in erster Linie eine Reaktion auf die wirtschaftliche Krise, in der Lateinamerika dank der grassierenden Korruption schon seit Jahren steckt. Eine Krise, die sich infolge des Klimawandels langsam, aber stetig und infolge der Pandemie schlagartig verschlimmerte.
Links ist nicht gleich links
Gerade die jüngeren Lateinamerikaner machten dafür die in den meisten Ländern lange dominanten Rechtspopulisten verantwortlich, die oftmals auch Vertreter der wohlhabenden Elite sind. In Brasilien, dem von Einwohnerzahl und Fläche größten sowie wirtschaftlich stärksten Land Lateinamerikas, leugnete der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro sogar regelmäßig die Existenz von Klimawandel und Coronavirus.
Viele Experten gehen davon aus, dass die linke Welle bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst auch Brasilien erfassen wird. Umfragen zufolge sieht alles danach aus, dass der ehemalige linke Präsident Luiz Inácio Lula da Silva das Amt nach 11 Jahren zurückerobern wird.
Damit wären die sechs größten Volkswirtschaften Lateinamerikas allesamt in sozialistischer Hand. Politische Einheit bedeutet das aber noch lange nicht, die Unterschiede zwischen konservativen und progressiven Linken, etwa beim Umweltschutz, sind groß. Sie reiben sich auch an der Frage auf, wie mit den linksautoritären Regimen in Kuba, Venezuela und Nicaragua umzugehen ist. Die länderübergreifenden Probleme des Kontinents werden sich nicht nur auf nationaler Ebene lösen lassen.
Ein Überblick über die sechs wirtschaftsstärksten Nationen Lateinamerikas:
Mexiko
Der einwohnerstärkste spanischsprachige Staat der Welt wird seit 2018 von Andrés López Obrador regiert. Er gilt als konservativer Linker, der aus Sicht seiner Kritiker zu wenig auf Umweltschutz und feministische Politik setzt. Obrador hat sich dem Kampf gegen Korruption und Kriminalität verschrieben, doch die Gewalt im Land bleibt hoch.
Argentinien
Alberto Fernández ist seit Dezember 2019 Präsident Argentiniens. Er setzt die Politik der linkspopulistischen Präsidenten Néstor Kirchner (2003-2007) und dessen Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) fort, deren Kabinettschef er jeweils war. Sein Land steckt seit der Pandemie in einer Wirtschaftskrise, Fernández steht in der Kritik.
Peru
Seit bald einem Jahr wird Peru von Pedro Castillo regiert. Der Mann mit dem Hut entstammt einer der ärmsten Regionen des Landes und weiß den Großteil der indigenen Bevölkerung hinter sich. Castillo gilt als Hardliner, trat im Wahlkampf rassistisch auf und musste bereits zwei Amtsenthebungsverfahren überstehen. Sein Land ist aufgrund der hohen Inflation in Unruhe.
Chile
Die wirtschaftliche Vorzeigenation Südamerikas wird seit dem 11. März vom ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric regiert, mit 36 der jüngste Präsident der chilenischen Geschichte. Er gilt als progressiv, will das Pensionssystem reformieren und eine staatliche Krankenversicherung etablieren. Mit Kuba, Venezuela und Nicaragua liegt er im Clinch.
Kolumbien
Seit dem 19. Juni regiert erstmals ein linker Präsident Kolumbien. Der ehemalige Guerilla-Kämpfer Gustavo Petro ging aus einem wilden Wahlkampf mit dem Rechtspopulisten Rodolfo Hernández als Sieger hervor und löst damit Iván Duque ab, unter dem seit 2018 Korruption und Polizeigewalt zugenommen hatten. Petro gilt vor allem für Junge als Hoffnungsträger.
Brasilien
Auch im größten, wirtschaftlich stärksten und einwohnerreichsten Land Lateinamerikas bahnt sich eine linke Wende an. Der amtierende, rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro ist schwer umstritten, aktuell gilt ein Wahlsieg des 72-jährigen Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva als wahrscheinlich. 580 Tage saß „Lula“ wegen des Vorwurfs der Geldwäsche in Haft, bis das Urteil 2021 aufgehoben wurde.
Kommentare