Die ukrainische Offensive in Kursk birgt hohe Risiken - trotz Anfangserfolgen

Die ukrainische Offensive in Kursk birgt hohe Risiken - trotz Anfangserfolgen
Nach wie vor scheinen die Russen überrumpelt zu sein. Doch gewonnenes Gelände zu halten, ist für die Ukraine eine schwierige Aufgabe.

Erbitterte Kämpfe, brennende Panzer auf beiden Seiten, Videos, auf denen ukrainische Soldaten russische Flaggen von Gebäuden reißen und durch ukrainische ersetzen, sich stündlich ändernde Lageberichte. Seit vergangenem Dienstag ist die Lage in der russischen Region um Kursk unübersichtlich – und dabei bleibt es vorerst. „Trotz der Verlegung zusätzlicher Verbände der russischen Streitkräfte ist es noch nicht möglich, die Frontlinie endgültig zu stabilisieren“, schreibt der für gewöhnlich gut informierte prorussische Kriegsblog „Rybar“ am Montagnachmittag.

Laut dem amtierenden Gouverneur der Region Kursk kontrolliert das ukrainische Militär aktuell 28 Siedlungen. Dabei sind die ukrainischen Streitkräfte auf einer breite von 40 km um bis zu 12 km tief auf dem russischen Territorium vorgedrungen. 121.000 Menschen seien evakuiert worden.

"Nebel des Krieges"

Immer wieder stoßen kleine ukrainische Einheiten an anderen Grenzabschnitten vor, stiften Verwirrung. Auf diese Art und Weise – dem Vorgehen bei der erfolgreichen Offensive im Herbst 2022 nicht unähnlich – dürften die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen unter anderem geschafft haben, ein Gebiet von 800 Quadratkilometern (zum Vergleich: Die Fläche Wiens beträgt 414 Quadratkilometer) einzunehmen. Indem sie russische Stellungen umgingen, in deren Rücken die Flagge in Ortschaften hissten, online stellten und weiterzogen, stifteten sie Chaos und Verwirrung. Nach wie vor sprechen Beobachter beider Seiten von einem „Nebel des Krieges“, da die Lage so unübersichtlich ist.

Die Tatsache, dass ukrainische Verbände seit nunmehr sieben Tagen russisches Territorium besetzt halten, sorgt für Unmut in prorussischen Blogs – und es ist stark anzunehmen, dass die Verantwortlichen im russischen Verteidigungsministerium mit Konsequenzen zu rechnen haben werden. Für Russland ist der ukrainische Angriff peinlich. Beide Seiten sollen indes eilig Verteidigungsstellungen ausheben. Ein Indiz dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte gewonnenes Gelände halten wollen. In puncto Aufmerksamkeit und öffentlicher Wahrnehmung ist der überraschende Angriff der Ukrainer ein Erfolg, während Russland düpiert dasteht.

Doch noch ist der Ausgang dieses Unterfangens völlig unklar, ebenso wie die endgültige Intention Kiews.

Die ukrainische Offensive in Kursk birgt hohe Risiken - trotz Anfangserfolgen

Die Prognosen reichen von einem möglichen Desaster für die ukrainischen Streitkräfte bis hin zu einer Ausdünnung russischer Truppen an der Donbas-Front und den Gewinn russischen Gebiets als Verhandlungsmasse für einen etwaigen Friedensprozess.

Pufferzone?

Es ist möglich, dass die ukrainische Führung einem russischen Angriff auf ukrainisches Territorium in Sumy zuvorkommen wollte und eine Pufferzone auf russischem Boden errichten will. Als russische Truppen im Frühling in den Oblast Charkiw eindrangen, fürchtete man, dass dasselbe in Sumy geschehen könnte. Aus dieser Sicht könnte die Ukraine – so die Streitkräfte das Gelände halten können – einen Erfolg verbuchen.

Die letzte Gaspipeline

Vieles hängt davon ab, wie wichtig dem Kreml die von der Ukraine besetzten Gebiete sind. Mit der Stadt Sudscha, in der sich die letzte Gasstation, von der aus Gas über die Ukraine nach Europa geleitet wird, befindet, hätten die Ukrainer wohl ein wertvolles Verhandlungspfand. Derzeit fließt das Gas – die Frage ist, wie lange noch. Die Gasstation soll sich derzeit in der Hand der ukrainischen Streitkräfte befinden. 

Im für die Ukraine besten Fall lösen die Russen Verbände aus der Donbas-Front, um das Gebiet im Raum Kursk zurückzuerobern. Dadurch könnte der seit Wochen langsam aber stetig voranschreitende Vormarsch im Donbas verlangsam oder gar zurückgeschlagen werden, während – so die Theorie – sich die russischen Truppen in Kursk abnützen würden.

Danach sieht es aber nicht aus. Derzeit rücken sie im Donbas weiter vor, konnten am Wochenende wieder Geländegewinne erzielen. In der seit Monaten umkämpften Stadt Tschassiw Jar sowie in Richtung einer für die Ukrainer wichtigen Versorgungsstraße, die die Stadt Dnipro mit Kostjantyniwka und in weiterer Folge mit Tschassiw Jar verbindet. „Vielleicht bin ich jetzt in der gleichen Lage wie der Gefreite, der nicht versteht, warum er einen Graben halten muss", sagte ein ukrainischer Bataillonskommandant im Donbas zum Wall Street Journal. „Aber 1.000 Mann werden hier sehr dringend gebraucht".

Das Problem der Reserven

Die russischen Reserven sind groß, während jene der Ukraine – vor allem in puncto Soldaten – spärlich sind. Und gerade im Donbas herrscht massiver Personalmangel. Die Verbände, die sich den Russen entgegenstellen, kämpfen seit Jahren de facto ununterbrochen. 

Gleichzeitig ist ein weiterer ukrainischer Vormarsch bis zur Stadt Kursk sehr unrealistisch, geschweige denn deren Eroberung. Im für die Ukraine schlimmsten Fall zermürben russische FAB-Bomben sowie Drohnenschwärme und neue russische Kräfte die ukrainischen Soldaten in Kursk, während sich an der Front im Donbas nichts am russischen Vormarsch ändert.

Welches Szenario tatsächlich eintritt – darüber liegt noch der „Nebel des Krieges“.

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