Deutsche Panzer in Russland – und der Westen schweigt
Bisher war ein Einsatz gelieferter Waffen für Berlin und Washington eine rote Linie. Jetzt sind Kiews Soldaten mit westlichem Gerät 35 Kilometer weit auf russisches Territorium vorgedrungen. Was hat sich verändert?
Seit zweieinhalb Jahren ist immer von „roten Linien“ die Rede, wenn es um die Ukraine geht. Zunächst waren Waffenlieferungen ein Tabu, dann Panzer, zuletzt Kampfjets.
Das ist alles Geschichte, denn der Krieg schreibt seine Gesetze immer wieder um. Auch jetzt, da die ukrainischen Streitkräfte erstmals offiziell russisches Territorium unter ihre Kontrolle brachten: Dass deutsche Panzer Richtung Moskau rollen könnten, erstmals seit 1945, war immer das große Schreckensbild, vor allem in Berlin. Jetzt stehen deutsche Marder in Kursk auf russischem Boden, und aus dem deutschen Außenministerium heißt es nur: „Die Ukraine hat ein völkerrechtlich verankertes Recht auf Selbstverteidigung. Und das beschränkt sich nicht auf ihr eigenes Territorium.“ Ähnlich die Reaktion aus Washington: Die Angriffe stünden „im Einklang mit unserer Politik“, so das Pentagon.
Knapp fünf Tage lang hatten sich alle Offiziellen mit Kommentaren zur Offensive zurückgehalten, nicht einmal Kiew selbst gestand ein, dass es reguläre Kräfte sind, die da gerade in Russland vorrücken. Erst am Freitagabend veröffentlichte die 61. mechanisierte Brigade ein Video, das Soldaten bei der Einnahme eines russischen Gas-Verteilerpunkts zeigt; Präsident Selenskij sagte dazu in seiner täglichen Ansprache, dass die Russen ihren Krieg auch selbst „spüren“ sollten. Damit war klar: Da sind keine Saboteure oder Freischärler am Werk wie bisher, das ist eine koordinierte Attacke – und die wurde offenbar von langer Hand geplant.
Faustpfand als Ziel
Ob der Westen zuvor informiert war, ist unklar. Die lange Zurückhaltung aller Akteure mag aber damit zu tun gehabt haben, dass niemand recht wusste, ob die Offensive gelingt – oder ob sich die Ukraine damit nicht selbst mehr Schaden zufügen würde. Kiew steht an anderen Frontabschnitten aufgrund Personalmangels massiv unter Druck, von dort wurden Kräfte für den Vorstoß abgezogen.
Jetzt, da die ukrainischen Soldaten bereits 35 Kilometer weit vorgedrungen sind und die Russen noch immer überrascht scheinen, überwiegt der Eindruck, dass Kiew vielleicht ein kleines Husarenstück gelungen ist: Hält sie die Region unter Kontrolle, hat sie ein wertvolles Faustpfand für Verhandlungen in der Hand.
Zugute kommt Kiew dabei, dass der Angriff auch innerhalb Russlands für ungewöhnlich heftige Kritik sorgt. Am Freitag ging eine massive Drohnenattacke auf den Luftwaffenstützpunkt Lipetsk nieder; dort sind jene Gleitbomben gelagert, mit denen die Russen seit Monaten Charkiw bombardieren. Viele Bewohner konnten nicht fliehen, da die Behörden zu spät oder gar nicht reagiert hatten, an der Grenze waren nur Wehrpflichtige stationiert. „Wie konnten wir nur versäumen, dass die Ukraine das zwei Monate lang geplant hat?“, fragte etwa der Abgeordnete Andrej Guruljow, selbst ehemals General. Auch Politologe und Putin-Unterstützer Sergej Markow sagte öffentlich: „Das ist ein Versagen des gesamten Geheimdienstsystems, und da Putin das Sagen hat, ist das auch ein harter Schlag für ihn.“ Ähnliches ließen hohe Beamte des Apparats wissen, anonym über kremlkritische Zeitungen: Da war von einer „Ohrfeige“ für den Kreml die Rede.
Dort reagiert man mit bekannten Maßnahmen. Am Donnerstag kursierte ein Video von Geflüchteten, die Putin weinend um Hilfe baten: „Binnen Stunden war unser Dorf in Schutt und Asche gelegt“, sagen die Menschen dort, und niemand sei für sie da gewesen. Zu sehen war es nicht lang – kurz nach Veröffentlichung war YouTube in vielen Regionen nicht mehr erreichbar.
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