Warum Selenskij plötzlich über Gebietsabtretungen spricht
Die Tonlage in der Ukraine hat sich verändert in den vergangenen Wochen. Zuerst war da die Ankündigung, vielleicht doch mit russischen Vertretern sprechen zu wollen, jetzt hat Präsident Selenskij das umstrittene Wort Gebietsabtretungen in den Mund geworfen. Was ist da los?
Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was genau hat Selenskij gesagt – und was meint er damit?
In einem Interview mit der französischen Zeitung Le Monde sagte er, dass eine Friedenslösung mit Russland nur mit Zustimmung der Bevölkerung von statten gehen könne. „Sie müssen verstehen, dass jede Frage, die die territoriale Integrität der Ukraine betrifft, nicht von einem Präsidenten, einer einzigen Person oder von allen Präsidenten der Welt ohne das ukrainische Volk gelöst werden kann", so Selenskij.
Die Meldung ging um die Welt, alle Nachrichtenagenturen berichteten – allerdings ohne viel Kontext. Denn kommt es je zu einem Friedensschluss, so kann Selenskij gar nicht allein darüber entscheiden, ob sein Staat Gebiete abtritt – die Verfassung schreibt ein Referendum vor.
Laut Artikel 73 sind Gebietsveränderungen nur nach einem landesweiten Referendum zulässig; und da in der Verfassung namentlich alle Oblaste aufgezählt sind, die Russland beansprucht – neben der Krim also Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja – müsste wohl auch die Verfassung geändert werden, dafür ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig, also ein Schulterschluss mehrerer Parteien.
Will die Ukraine also Gebiete abtreten?
Nein. Selenskijs Aussage ist leicht falsch zu verstehen – sie soll nicht suggerieren, dass die Ukraine freiwillig auf die besetzten Gebiete verzichten wird. Das wäre politischer Selbstmord und gleichsam eine Einladung an Moskau, eine neue Offensive zu starten.
Vielmehr ist sie ein Signal, dass die Ukraine sich bewegt – die Situation am Schlachtfeld ist nicht gerade hoffnungsvoll, zudem hat man in Kiew Angst vor einer neuerlichen Präsidentschaft Trumps. Schon Selenskijs kürzliches Zugeständnis, sich nach zweieinhalb Jahren Weigerung doch mit russischen Vertretern an einen Tisch zu setzen, hatte diesen Grund.
Selenskij brachte in dem Interview aber auch umgehend Gegenleistungen für Gebietsabtretungen ins Spiel – „Sicherheitsgarantien, vielleicht durch die NATO, vielleicht durch die EU?“, sagte er. Die habe zwar bisher keiner angeboten, aber darüber wird im Hintergrund durchaus gesprochen. Und wenn das passieren soll, „müssen es auch die Leute wollen“ – sprich, man wird die Bevölkerung befragen.
Wie wahrscheinlich ist eine solche Lösung?
Beobachter sagen schon lange, dass es einen Waffenstillstand und daraus folgende Friedensbemühungen wohl nicht ohne Zugeständnisse des Westens geben wird: Die Ukraine braucht das militärische Gewicht der NATO und das finanzielle Backing der EU im Rücken, um mit Russland auf Augenhöhe reden zu können.
Um Gebietsabtretungen wird Kiew wahrscheinlich nicht umhinkommen, da sich die Lage an der Front zuletzt erheblich verschlechtert hat. Zwar werden gerade die ersten F-16-Jets geliefert, doch niemand erwartet, dass sie die Situation komplett drehen werden können – vielmehr können sie dafür sorgen, dass sich die Lage wieder stabilisiert. Das wäre für Kiew die beste Voraussetzung für Verhandlungen.
Kommt es tatsächlich zu einem Friedensschluss, ist aber ebenso unwahrscheinlich, dass die Ukraine sich auf juristisch unumkehrbare Gebietsabtretungen einlässt. Beobachter rechnen damit, dass eine Formulierung gewählt wird, die die Besatzung Russlands anerkennt, die aber keinen Souveränitätsstatus vermittelt. Experten erinnern an das Modell der DDR, die nach der Teilung Deutschlands international weder de facto noch de jure anerkannt war – diese Nichtanerkennungspolitik sollte eine schnelle Reintegration der DDR möglich machen, falls die Sowjetunion kollabieren würde. Ähnliches wäre dann bei politischen Umwälzungen in Russland denkbar.
Welche Rolle wird die Krim spielen?
Die Krim ist ein Sonderfall, da sie nicht nur historisch vorbelastet ist – in Moskau wird immer damit argumentiert, dass sie der Ukraine 1954 unter Parteichef Nikita Chruschtschow nur geschenkt worden wäre und eigentlich „historisches Erbland“ der Russen sei. Dazu ist sie der größte Militärstützpunkt Russlands in der Ukraine, und ein wichtiger Knotenpunkt im Handel über das Schwarze Meer. Aus dieser strategischen Perspektive wollen beide Staaten die Krim kontrollieren. Gelingt der Ukraine allerdings kein militärischer Erfolg auf der Krim, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie unter russischer Besatzung bleiben wird.
Was denkt die Bevölkerung über Gebietsabtretungen?
Die ist eigentlich mehrheitlich dagegen. Nur knapp zehn Prozent wären einverstanden, wenn die Grenzen entlang der jetzigen Frontlinie gezogen würden – wenig Wunder, müsste die Ukraine ja knapp ein Fünftel ihres Territoriums aufgeben. Ein Viertel würde die Abtretung der Regionen Luhansk, Donezk und Krim akzeptieren, also jener Gebiete, die Russland sich 2014 einverleibte. Die Hälfte wünscht sich die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 – also die Wiederherstellung der vollen Souveränität des Landes, inklusive der Krim.
Das war eigentlich auch immer die Grundbedingung Selenskijs. Gefordert hat er das aber nun schon länger nicht mehr.
Wird es Verhandlungen geben? Und wann?
Möglicherweise nach den US-Wahlen im Herbst. Für November ist ein Friedensgipfel an einem noch unbekannten Ort avisiert, ein Folgegipfel zu jenem in der Schweiz im Juni. Beim damaligen Treffen waren keine russischen Vertreter geladen, weil Kiew das blockiert hatte, das hat Selenskij nun revidiert – wohl auf internationalen Druck hin: "Ich bin - wie die meisten Länder - der Ansicht, dass beim zweiten Friedensgipfel im November Vertreter Russlands anwesend sein sollten, da wir sonst keine tragfähigen Ergebnisse erzielen werden“, sagte er zur Le Monde. „Wenn alle Russland am Verhandlungstisch sehen wollten, dann kann die Ukraine nicht dagegen sein.“
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