Gewaltkult in Russland: "Wie in Österreich im Zweiten Weltkrieg"
Wer sein Frau schlägt, darf das straffrei tun, und auch Soldaten, die vergewaltigen, werden fast nie belangt - im Gegenteil, manchmal werden sie sogar als Helden verhert. Sabine Fischer, eine der bekanntesten Russland-Expertinnen Deutschlands, sieht zwischen den nackten Oberkörper-Bildern Putins, dem Männlichkeitskult und der ausufernden Gewalt im Land und vor allem im Krieg gegen die Ukraine einen großen Zusammenhang: Geradezu "nekrophil" seien Heldenverehrung und Gewaltkult in Russland, sagt die Forscherin im Interview.
Russland spricht besonders brutal über die Ukraine. Ex-Präsident Medwedew sagte kürzlich, man solle „ja keine Menschlichkeit“ walten lassen, Ukrainer „hätten kein Recht zu leben“. Warum ist das so normal?
Gewalt ist schon lange Teil der russischen Politik, in der Sowjetzeit und den 1990ern haben die Menschen teils extreme Gewalterfahrungen gemacht – im Afghanistankrieg, in den Tschetschenienkriegen, in Georgien. Aufgearbeitet wurde das aber nie, so kann sich die Gewalt immer fortsetzen: von der privaten auf die gesellschaftliche, politische und internationale Ebene.
Unter Putin fand zudem in den letzten 15 bis 20 Jahren eine bewusste Entgrenzung statt, Gewalt wurde entkriminalisiert und verherrlicht. Die großen Säuberungen der Stalinzeit und der Zweite Weltkrieg wurden glorifiziert. Das Regime hat so die ganze Geschichte umgeschrieben, das Gewalttrauma wurde durch eine nekrophile Heldenverehrung verdrängt.
Hat sich diese Entwicklung seit dem Februar 2022 noch beschleunigt?
Die erste Bruchlinie war die Pandemie 2020, dazu kam die Demokratiebewegung in Belarus, danach setzte in Moskau eine schnelle Radikalisierung ein. Der Gipfel des Ganzen ist die Gewaltexplosion in der Ukraine, die auf Vernichtung abzielt. Der Kriegsgegner, die ukrainische Gesellschaft, wird absichtlich entmenschlicht. Ukrainerinnen und Ukrainer werden nur mehr als Masse gezeichnet, die vernichtet werden muss. Darin zeigt sich auch die zunehmend faschistoide Tendenz des Putin-Regimes. Mit dem Krieg, der alle Gewalterfahrungen der letzten Dekaden in den Schatten stellt, wird aber auch die eigene russische Bevölkerung verformt. Putins Regime zerstört die russische Gesellschaft. Es wird Generationen dauern, das zu bewältigen.
Die Ukraine wird im Politsprech oft verweiblicht, als Vergewaltigungsopfer dargestellt. Putin selbst sagte kurz vor der Invasion: „Ob du willst oder nicht, du wirst es hinnehmen müssen, meine Schöne“. Woher kommt diese Frauenverachtung?
Ich nutze dafür den Begriff Chauvinismus. Das vereint den aggressiven, nationalistischen Imperialismus, die Diktatur Putins und den herrschenden Sexismus, den er auch durch die Betonung von aggressiver Hypermaskulinität zur Schau stellt. Historisch ist das nicht verwunderlich. Die angebliche Geschlechtergleichstellung der Sowjetunion war nur Doppelsprech, sie hatte mit der Realität nichts zu tun. Frauen hatten eine Dreifachbelastung, sie waren nur im Arbeitsleben „gleichberechtigt“, weil das Überleben anders nicht möglich gewesen wäre. Zeitgleich waren sie politisch fast vollständig marginalisiert – und an der extrem patriarchalen Familienstruktur der Zarenzeit hatte sich auch kaum etwas verändert. Auch im post-sowjetischen Russland ist sie in vielen Gesellschaftsschichten erhalten geblieben. Sexismus ist heute zentrales Element der Gesellschaft. In den 1990ern gab es eine kurze Zeit des feministischen Aufbruchs, mit Beginn des Putin-Regimes kam aber sofort ein drastischer Rollback, der umso intensiver wurde, je autokratischer das Regime wurde.
Auch in den eigenen vier Wänden ist Gewalt kein Tabu, im Gegenteil: Wer seine Frau schlägt, darf das in Russland straffrei. Das Gesetz wurde 2017 abgeschafft, vorangetrieben hat das eine weibliche Abgeordnete. Wie kann man sich das erklären?
Jedes patriarchale System hat auch Frauen, die es mittragen, nur sind die nie in der Nähe des Entscheidungszentrums. Das Politbüro der UdSSR war in seiner ganzen Geschichte 100 Prozent frauenfrei, der engste Zirkel Putins besteht auch nur aus Männern. Frauen wie jene Mandatarin, Putins Kinderrechtsbeauftragte Lwowa-Belowa oder Nationalbankchefin Nabiullina sind Soldatinnen des Regimes, sie haben keine wirkliche politische Macht – sie sind Komplizinnen des Putinismus.
Das unterscheidet sie von Figuren wie Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder Alice Weidel, die zwar auch teils radikale, neofaschistische Positionen vertreten, aber mit realer politischer Macht ausgestattet sind. Die Parteiprogramme, die sie vertreten, sind patriarchal, darin steckt ein Widerspruch. Aber allein, dass sie in der Position sein können, spiegelt einen gesellschaftlichen Wandel, der in Russland bislang zumindest nicht stattgefunden hat.
Sexualisierte Gewalt wird auch im Krieg eingesetzt. Ist das geduldet, gewollt, wird das sogar gefördert?
Es gibt Belege, dass Vergewaltigungen – von Frauen und Männern - in den besetzten Gebieten als Waffe eingesetzt werden. Laut dem Büro des UN-Menschenrechtsbeauftragten gibt es sexualisierte Gewalt auf beiden Seiten, jedoch mit einem Unterschied: Russland nutzt sexualisierte Gewalt bewusst, um die Bevölkerung einzuschüchtern, in Gefängnissen und Auffanglagern etwa. Es ist ein Instrument der Entmenschlichung, der Zersetzung des Widerstandes. In Russland gibt es dafür auch fast hundertprozentige Straflosigkeit, das öffnet alle Luken. Unter ukrainischen Soldaten gibt es zwar auch Fälle, aber deutlich weniger – und die Regierung in Kiew geht dagegen vor.
Auch die Opposition in Russland ist fast durchgehend männlich. Könnte eine Frau überhaupt zur Führungsfigur aufsteigen?
Ja. In Belarus, einem ebenso extrem patriarchalen, autokratischen System, konnte man das sehen: Die demokratische Bewegung, angeführt von drei Frauen – Swetlana Tichanowskaja, Marija Kolesnikowa und Veronika Zepkalo – hat das System 2020 total destabilisiert. Die drei waren Projektionsfläche für den Unwillen der Bevölkerung, die Herrschaft des Diktators Aleksandr Lukaschenka weiter zu ertragen. Er hat nur überlebt, weil Putin sich hinter ihn gestellt hat.
Bei der russischen Präsidentschaftswahl im März versuchte ja Jekaterina Dunzowa zu kandidieren. Sie stellte sich offen gegen den Krieg. Sie wurde auffällig schnell aus dem Rennen genommen. Die Vermutung liegt nahe, dass da auch ein Tichanowskaja-Effekt verhindert werden sollte. Innerhalb Russlands und im Exil gibt es viele brillante Frauen, die die Zukunft Russlands prägen könnten, aber das Regime will das mit aller Brutalität verhindern.
1992 ging Sabine Fischer zum Studium nach St. Petersburg, danach hat Russland sie nicht mehr losgelassen – mittlerweile ist die deutsche Politikwissenschaftlerin Senior Fellow an der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und erklärt regelmäßig in den Medien Hintergründe zu Putins Politik und dem Angriffskrieg gegen die Ukraine
Ihr jüngstes Buch heißt „Die chauvinistische Bedrohung– Russlands Kriege und Europas Antworten“ und ist im Ullstein-Verlag erschienen. Es ist im Fachhandel erhältlich.
Sie waren 1992 das erste Mal, im Juni 2022 das letzte Mal in Russland. Wie haben Sie die Gesellschaft, die Veränderungen wahrgenommen?
Die Gesellschaft wird mittels Angst und Repressionen passiv gehalten, Denunziationen haben exponentiell zugenommen. Das wirft das Land zurück in die Sowjetunion der 1930er. Dazu kommt der psychologische Zwang, diese abnorme Brutalität des Krieges zu normalisieren. Da setzt die Propaganda an, die behauptet: Wir verteidigen uns ja nur. Würden wir uns nicht verteidigen, würde sie uns töten. Die psychische Überforderung ist Einfallstor für die Propaganda. Viele dieser Prozesse und psychologischen Verdrängungsmechanismen ähneln durchaus den Vorgängen in Deutschland und Österreich während des Zweiten Weltkriegs.
Der Großteil der Gesellschaft war aber schon vor der Invasion politisch apathisch. Das Regime hat in den letzten 20 Jahren alle Strukturen, die politische Partizipation möglich machten, systematisch zerstört. Die Gesellschaft hat keine Möglichkeit, sich Ausdruck zu verschaffen, und wer das Regime ablehnt, geht ein großes persönliches Risiko ein. Dennoch passiert es, wie bei der Unterschriftensammlung von Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin, den über 200.000 Menschen unterstützten – sie gaben sozusagen gleich dem FSB ihre Daten. Das ist eigentlich unglaublich.
Das russische Regime ist aber nicht so stabil, wie es uns glauben machen möchte. Im Westen hat man den Blick dafür verloren, dass die Zukunft des Regimes vom Kriegsverlauf abhängt. Seit dem Beginn der Vollinvasion gab es durchaus Phasen der Unsicherheit, wenn die Ukraine militärische Erfolge errang.
Haben der russische Chauvinismus und die Hypermaskulinität auch Bewunderer im Westen?
Trump braucht Putin nicht, um Chauvinist zu sein, das schafft er allein. Aber ja, es gibt Überschneidungen, an diesem Punkt kann das Putin-Regime auch gezielt Einfluss auf politische und gesellschaftliche Prozesse im Westen nehmen. Das sind kräftige und bequeme Hebel, um die demokratischen Erosionsprozesse im Westen zu beschleunigen.
Wie ist ihre Zukunftsprognose für Russland?
Leider düster. Selbst wenn das Regime kollabiert oder ein demokratischer Wandel von statten geht, wird der Chauvinismus in Russland nicht einfach verschwinden. Wenn die westliche Unterstützung für die Ukraine abnimmt – und das ist auch mit Blick auf die US-Wahl nicht auszuschließen -, dann laufen wir Gefahr, dass der russische Chauvinismus siegt. Das wäre für die Ukraine und Europa, aber auch für Russland eine Katastrophe.
Allerdings: Langfristig ist das Regime zum Scheitern verurteilt. Wirtschaftlich, weil die Sanktionen es schädigen und immer abhängiger von China machen, politisch, weil eine verkrustete, zunehmend senile Männerelite es beherrscht. Dieses Regime kann aus sich heraus keinen Generationswechsel oder Reformen vollziehen. Kurzfristig wird diese Aussicht der Ukraine aber nicht helfen.
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