Auch bei Friedensverhandlungen ist es oft so, dass Staats- und Regierungschefs alles selbst in die Hand nehmen, um Tatkraft zu zeigen. Ist auch das hinderlich?
Ja, durchaus. Bei den Minsk-Verhandlungen 2015 etwa saßen Putin, Poroschenko, Merkel und Hollande selbst am Tisch. Das Problem dabei ist: Das Ergebnis, das dann rauskommt, ist nicht mehr nachverhandelbar – es gibt keine Instanz darüber, die etwas verbessern kann. Wird etwas auf Botschafterebene ausgehandelt, kann sich ein Minister oder Regierungschef notfalls einschalten, um den Karren selbst aus dem Dreck zu ziehen.
Putin wird oft vorgeworfen, nicht wirklich verhandeln zu wollen, sondern auf Zeit zu spielen. Was muss passieren, damit er Kompromisse eingeht? Geht das nur, wenn Kiew die Oberhand auf dem Schlachtfeld hat?
Damit Russland ernsthaft verhandelt, müsste sich im Kreml das Bewusstsein breitmachen, dass sich die Lage mit militärischen Machtmitteln nicht mehr verbessern lässt. Salopp gesagt: Generalstabschef Gerassimow müsste zu Putin marschieren und sagen: "Herr Präsident! Besser wird’s nicht mehr." Der Zeitpunkt dafür ist aber noch weit entfernt. Deswegen wäre es falsch, wenn die Ukraine dem Vorschlag vermeintlich gutwilliger Ratgeber folgt, jetzt zu Verhandlungen bereit zu sein – auf die würde Russland nur zur Show eingehen. Und das Ergebnis daraus kann man der Ukraine nicht wünschen. Auf echte Verhandlungen werden wir noch warten müssen, leider.
Welches Zukunftsszenario, welchen Friedensschluss halten Sie für plausibel?
Irgendwann geht der Konflikt zu Ende, und dann wird auch verhandelt werden. Das Problem dabei ist: Wie kann sichergestellt werden, dass man dem Ergebnis vertrauen kann? Sinnvoll ist das Prinzip "Don’t trust, verify" – oder: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Ukraine muss den Zusagen der Gegenseite nicht vertrauen, sondern nur akzeptieren, was verifizierbar ist – per Aufklärung, Satellitenbilder, Geheimdiensterkenntnisse.
Die russische Armee könnte zum Beispiel verpflichtet werden, sich auf eine gewisse Distanz von der Grenzlinie zurückzuziehen, damit kein plötzlicher Überfall möglich ist. Das ließe sich mit Satelliten überwachen. Ist Verifikation kein zentraler Bestandteil einer Einigung, ist sie das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Ich glaube, die Ukrainer wissen das sehr genau. Aus solchen Verifikationsmaßnahmen kann sich dann auch wieder ein Vertrauensverhältnis ergeben. Das wird zwischen der Ukraine und Russland aber lange dauern.
Glauben Sie, dass die Ukraine zu Russland jemals wieder Vertrauen fasst, solange Putin Präsident ist?
Vertrauen aufzubauen, kostet Zeit. Verlieren kann man es über Nacht. Wir haben bis auf Weiteres mit Putin zu rechnen. Wenn Selenskij verhandeln will, dann muss er es mit Putin tun, trotz allen Misstrauens.
Wie muss sich denn Europa für diese Zukunft mit Putin aufstellen?
Was den Umgang mit Russland angeht, müssen wir wieder bei null anfangen. Damals im Kalten Krieg fing man mit Rüstungskontrolle auf nuklearer Ebene an. Daneben gab es die MBFR-Verhandlungen über Truppenverminderungen – wie viele Panzer darf die NATO haben, wie viele Russland? Sind Beschränkungen für Truppen und Waffen bestimmter Kategorien denkbar? Und welche Vereinbarungen könnten wir auf westlicher Seite akzeptieren, ohne uns zu entblößen – müssen wir bis an die russische Grenze bis an die Zähne bewaffnet sein, oder kann man eine entmilitarisierte Zone errichten? Dazu kamen vertrauensbildende Maßnahmen, etwa das Open-Skies-Abkommen. Wir konnten damals mit westlichen Flugzeugen russisches Gebiet überfliegen und kontrollieren – und umgekehrt. Diese Vereinbarungen sind leider fast alle mittlerweile obsolet geworden. Deshalb: wieder bei null anfangen, um Sicherheit für ganz Europa zu schaffen.
Und die Vereinbarungen haben den Krieg in der Ukraine nicht verhindern können.
Ja, weil Vereinbarungen ja nicht zustande kamen oder gekündigt waren. Die amerikanischen Geheimdienste warnten im Dezember 2021 aktiv – aber zahlreiche Regierungen, auch die deutsche, nahmen diese Erkenntnisse tatsächlich nicht ernst genug. Sogar Selenskij selbst versuchte noch bis in den Februar hinein, die russische Bedrohung kleinzureden, weil er fürchtete, dass das die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine in Mitleidenschaft ziehen würde. Das wäre darum die große Zukunftsaufgabe: Wir müssen Bedingungen schaffen, dass wir uns gegenseitig nicht ohne Vorwarnung überfallen können.
Was passiert, wenn Russland gar nicht über solche Vereinbarungen reden will?
Dann würde es eine Hochrüstungsspirale geben, die für die Russische Föderation wirtschaftlich absolut ruinös wäre. Vergessen wir nicht: Russland hat die Wirtschaftskraft Spaniens, mehr nicht! Darum denke ich, dass es auf russischer Seite irgendwann ein Interesse geben wird, das zu verhindern.
Kann China Russland zum Einlenken bewegen?
China muss einen unangenehmen Spagat machen. Strategisch am wichtigsten ist für China die Auseinandersetzung mit den USA, und hier ist es für Peking wünschenswert, Russland an der Seite zu haben. Aber: Für das immer machtvoller auftretende China ist es natürlich peinlich, einen Partner zu haben, der das Völkerrecht mit Füßen tritt, der mit nuklearen Waffen droht. Das ist ein Dilemma, Peking will ja keinen Reputationsschaden. Wir dürfen aber nicht erwarten, dass China auf Druck des Westens die Verbindung zu Russland grundsätzlich aufs Spiel setzt: Auf die Hoffnung, dass China als Vermittler tätig werden könnte, sollten wir nicht allzu viel setzen.
Kommentare