Weltleiden unter dem Megafon

Wenn Krieg die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, wie der preußische Generalmajor von Clausewitz so häufig zitiert wird, dann hat im Umkehrschluss die Politik respektive die Diplomatie im Kriegsfall versagt. Auch wenn im aktuellen Kriegsfall höchst ungewiss ist, ob ein Mehr an Diplomatie Wladimir Putin von seinem lange geplanten Kriegsverbrechen in der Ukraine abbringen hätte können; und ob nun ausgeschickte Botschaften über eine angebliche „Verhandlungsbereitschaft“ Moskaus nicht bloß die Finte eines notorischen Lügners sind.
Gewiss ist hingegen, dass Wolfgang Ischinger mit seiner These recht hat: Wir leben in einer Zeit, in der die hohe Kunst der Diplomatie in den Hintergrund getreten ist. Der brillante Analytiker und frühere Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz bemängelt, dass zu wenig auf das Geschick und Wissen von Botschaftern und geschulten Verhandlern zurückgegriffen werde. Stattdessen übernehmen Staatenlenker selbst die vermeintliche Diplomatie, im Glauben, es ohnehin besser zu können – und richten einander nächste Schritte ebenso wie Einschätzungen „mit dem Megafon“ aus. Sie schreien einander gewissermaßen an.
Das erinnert an etwas? Ja, ans „wirkliche Leben“, das abseits der Politik. Werden nicht auch dort Botschaften nur noch hinausgeschrien? Sind dort, wo früher Diskurs und Austausch gepflegt, Themen entwickelt wurden, heute nicht vornehmlich Megafone im Einsatz, die vorgeben, lauter und wichtiger zu sein als alle anderen – in den asozialen Netzen und Plattformen, im Fernsehen, auf der Straße? Gibt es noch Interesse, von Widerspruch profitieren, den eigenen Standpunkt bereichern zu können? Oder dominiert in unserer Lärm-Gesellschaft nur noch ein Ziel: die Diskreditierung und Vernichtung der anderen Meinung (und ihrer Träger)?
Die Lautesten werden gehört. Und so schreien auch manch’ traditionelle Medien, die ihre journalistischen Tugenden aufgegeben haben und sich plötzlich einer „Agenda“ verpflichtet sehen. Politiker tun es ihnen nach, oder umgekehrt, egal: Die lauten und rüpelnden haben, Marktschreiern gleich, Zulauf, einen Trump oder einen Kickl oder einen Johnson mögen die Leut’, zumindest eine Zeit lang – Differenzierung und Reflexion ist etwas für Weicheier.
Nein, das alles ist nicht kausal für das Weltunglück in der Ukraine. Wie beschrieb Angela Merkel nun die vergangenen Jahre im Umgang mit dem Kreml-Herrscher: „Für Putin zählt nur Power.“ Die Schuld ist also klar zu verorten. Aber Fakt ist, dass ein über Jahrzehnte nicht mehr für möglich gehaltener Krieg just in einer Zeit stattfindet, in der die diplomatischen Fähigkeiten der Gesellschaft insgesamt verkümmern, in der der Dialog abgerüstet und das Megafon das Argument abgelöst hat. Diese Koinzidenz ist auffällig. Und gewiss nicht zufällig.

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