Der Krieg wird jetzt in Russland geführt – was verändert das?
Die Videos sind eindeutig. Eine Drohne, die einen russischen Hubschrauber zu Fall bringt. Russische Soldaten, die sich reihenweise ergeben.
Vor drei Tagen sind ukrainische Verbände auf russisches Territorium vorgerückt, seither starren alle gebannt auf die Region Kursk: Die Ukraine hat den Krieg über die Grenze getragen, und das Gebiet, das sie nun kontrolliert, ist größer als München. Welche Folgen wird das haben?
Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was genau ist passiert?
In der Nacht auf Dienstag drangen Drohnen, später Truppen in die westrussische Grenzregion Kursk vor. Weil die Zone offenbar nur von Wehrpflichtigen geschützt wurde, konnten die Ukrainer sehr rasch vorrücken – teils bis zu 15 Kilometer weit. Mittlerweile ist laut russischen Medien ein Gebiet von gut 350 Quadratkilometern unter ukrainischer Kontrolle, mindestens zwei russische Verteidigungslinien wurden eingenommen, die Kommunikation ist erheblich gestört.
Waren das reguläre ukrainische Truppen – oder pro-ukrainische Saboteure?
Die Regierung in Kiew hat sich nicht zu dem Angriff geäußert, Präsident Selenskij erwähnte die Gebietseroberung in seiner abendlichen Ansprache nicht. Laut Beobachtern deutet aber vor allem das verwendete Gerät und die Luftunterstützung darauf hin, dass es offizielle Truppen waren. „Zum ersten Mal kämpfen reguläre ukrainische Truppen auf russischem Boden“, schrieb etwa der russische Militärexperte und Kremlkritiker Jan Matwejew.
Ähnliche, jedoch weniger weitreichende Angriffe gab es bisher weiter südlich in Belgorod. Die reklamierten meist pro-ukrainische Freischärler und russische Saboteure für sich; sie hatten aber wohl meist Unterstützung vom ukrainischen Geheimdienst.
Wie reagiert Russland?
Der Kreml ist ziemlich blamiert, da die Attacke sorgfältig geplant gewesen sein dürfte. Hardliner und Militärblogger werfen ihm öffentlich vor, dass der Generalstab schon vor zwei Wochen von den Plänen Kiews wusste.
In Moskau betreibt man Schadensminimierung: Man zensiert Bilder der Zerstörung und von sich ergebenden Soldaten, man will keine Panik schüren. Andererseits will der Kreml sich auch keine Untätigkeit vorwerfen lassen. Offiziell ist in den Medien darum nur von einem „Terroranschlag“ die Rede; dass die „Spezialoperation“ jetzt auch zu Hause ausgetragen wird, wird verleugnet. Der Kursker Regionalgouverneur erließ am Mittwoch einen Evakuierungsbefehl; in den sozialen Medien wird er dafür scharf angegriffen – die Warnung kam viel zu spät, viele Bewohner sind nun in der besetzten Zone eingesperrt.
Was ist Ziel der Attacke?
Darüber streiten Beobachter. Zum einen lenkt sie von den Verlusten Kiews im Donbass ab; jetzt hat die Ukraine den Informationsraum wieder für sich reklamiert.
Zum anderen treibt Kiew die Idee an, ein Faustpfand für Verhandlungen zu haben. Selenskijs Berater Michaijlo Podoljak übernahm im ukrainischen TV zwar keine Verantwortung für die Offensive, aber er sagte, dass sich die Eroberungen „positiv auf mögliche Gespräche“ auswirken würden. In den letzten Wochen hatten sich die Signale gemehrt, dass Kiew sich im Herbst – nach der US-Wahl mit Trump als neuem Präsidenten – mit den Russen an einen Tisch setzen könnte. Eine russische Region unter eigener Kontrolle wäre Druckmittel und Tauschobjekt.
Kann die Ukraine das Gebiet halten?
Das werden die nächsten Tage zeigen. Die Russen werden versuchen, die Ukrainer zurückzudrängen; das könnte laut Experten im besten Fall dazu führen, dass Moskau seine Truppen umgruppieren muss und Kräfte aus dem Donbass abzieht. Russische Militärblogger warnen, dass der Kampf um Kursk so „zur großen Schlacht“ werden könnte.
Andere Beobachter wie der deutsche Politologe Carlo Masala und die ukrainischen Analysten von Frontline Intelligence zweifeln aber daran: Es sei „Wahnsinn“, eine ganze Brigade für den Angriff nach Kursk zu verlegen, während die Lage im Donbass kritisch sei, schreiben die Ukrainer.
Auf Social Media wird gewarnt, dass AKW Kursk sei in Gefahr. Stimmt das?
Das Kraftwerk liegt 70 Kilometer hinter der Grenze, es gibt Videos von Beschuss in der Region. Möglich ist, dass die Ukraine es als Faustpfand besetzen will – Russland hält in der Südukraine das AKW Saporischschja besetzt; die Internationale Atomagentur warnt regelmäßig davor, dass es dort zu einem Atomunfall kommen könnte. So hätte Kiew ein Gegengewicht.
Kiew hat auch eine Gasmessstation unter Kontrolle, über die Gas nach Wien geleitet wird. Was heißt das?
Noch nicht viel. Die Gazprom könnte das Gas mit Verweis auf die Umstände drosseln, das wäre aber wohl wirtschaftlich nicht in ihrem Sinne. Und die Ukraine könnte die Lieferungen ohnehin auf ihrem eigenen Territorium unterbrechen. Allerdings könnte die Station Ziel von Beschuss werden – das hätte dann einen massiven Lieferausfall auch nach Österreich zur Folge.
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