KURIER-Redakteure in Charkiw: "Mitten im Raketenhagel"
Die Wohnung ist völlig ausgebrannt. Beißender Rauch brennt in den Augen, auf dem Boden sind Haushaltsgegenstände zu einer dampfenden Masse verschmolzen. "Katastrophe", sagt die ältere Dame, die hier wohnt – oder vielmehr gewohnt hat.
Hier, im Obergeschoß einer Wohnsiedlung im Ort Tschuchujiw, etwa 40 Kilometer von der Stadt Charkiw entfernt. In den Morgenstunden hat eine russische Granate oder Rakete zwischen zwei Wohnblöcken eingeschlagen. Was es war, wissen die Bewohner nicht – es ist ihnen auch völlig egal.
Ein Kind sei beim Einschlag gestorben – auch das wollen die einen wissen, die anderen schütteln den Kopf.
Bergen, was heil ist
Mit gesenkten Häuptern bergen sie aus ihren Wohnungen, was noch heil ist: Ikonenbilder, Bücher – ein Mann trägt eine Katze auf seinem Arm. "Sorry", ruft ein Mann plötzlich und kommt auf uns zu. Zuvor hatte er uns beschimpft, war wild gestikulierend auf uns zugelaufen.
Ein Mann hatte ihn zurückgehalten. Jetzt nähert er sich langsam. "Sorry! Ich leide", ruft er. Auf der linken Seite ist sein Gesicht blutverkrustet, seine Augen funkeln. Er redet auf uns ein, wir verstehen ihn nicht. Doch es wirkt, als wolle er sich entschuldigen.
Eine junge Frau, kommt hinzu, übersetzt: "Er meint, es täte ihm leid, er habe euch für ukrainische Journalisten gehalten. Er denkt, dass die ukrainische Regierung diese Rakete abgefeuert hat und den Russen die Schuld zuschieben will", sagt sie und schüttelt leicht mit dem Kopf.
Eine Anrainerin mit Verband im Gesicht und Blut auf ihrem Oberteil kommt hinzu, bittet uns in ihre Wohnung – oder das, was davon übrig ist. "Die Detonation hat den gesamten Türrahmen herausgerissen", sagt ihr Mann. Und das, obwohl die Wohnung etwa 70 Meter vom Einschlagsort entfernt liegt. Die Wucht der Explosion hat ganze Ziegel aus der Wand gedrückt, den Boden teilweise herausgerissen.
In "Nachrichten an die ukrainische Bevölkerung", die per SMS verschickt wurden, hieß es vor dem Angriff vonseiten Russlands: "Bleibt mit euren Lieben in den Städten. Wir werden keine friedlichen Städte, keine friedliche Bevölkerung bombardieren." Der Krater im Innenhof der Wohnanlage hat sich inzwischen aber bereits mit Wasser gefüllt. "Raketa", sagt ein glatzköpfiger Mann, der Einzelteile des Geschoßes aus dem Krater herausholt.
Als er sie fotografieren will, donnert es. Und noch einmal. Kurz ist es still. Leise sind zwei Einschläge zu hören. Weit weg. Der Mann deutet in Richtung Süden, wo Lugansk liegt, eine der beiden Separatisten-Hauptstädte, von wo Donnerstagfrüh die russischen Einheiten ganz tief in die Ukraine vorgestoßen waren. Wie auch aus Belarus, aus Donezk, dem Schwarzen Meer – aus jeder Richtung außer Westen. In Richtung Westen setzten sich Donnerstagfrüh allerdings Abertausende Autos in Bewegung, als die ersten Meldungen der russischen Offensive eintrafen. Die Straßen waren verstopft, auch aus der Hauptstadt Kiew flohen die Menschen mit ihren Autos.
Leben im Kriegsgebiet
Dennoch leben die, die in Charkiw bleiben, ihr Leben weiter. Gegen Mittag herrschte hier ein ruhiger Verkehr, hin und wieder unterbrochen durch Panzer und Truppentransporter der ukrainischen Streitkräfte. Menschenschlangen standen vor Bankomaten und Apotheken, doch auch Jogger liefen durch die Parks, ältere Menschen flanierten über den Platz.
Auch dann noch, als Meldungen von russischen Truppen in Charkiw kommen, als sich der Bürgermeister in einen U-Bahn-Schacht in Sicherheit bringt. Wenige Kilometer vom Zentrum entfernt sitzen Menschen im Lokal, trinken ein Glas Wein. "Das ist ein sicherer Ort, was sollen denn die Russen hier wollen?", fragt ein junger Mann in die Runde.
"Für wen kämpfen?"
Kämpfen will er nicht. "Für wen denn? Für diese korrupte Regierung, die unser Land verkauft hat?" Auf eine russische Besatzung freue er sich aber auch nicht, sagt er. "Ich war vollkommen überrascht, als ich in der Früh die Meldungen über den Einmarsch las. Niemals hätte ich gedacht, dass Putin wirklich so weit geht und wirklich von überallher in unser Land einmarschiert. Natürlich bin ich Ukrainer, aber was soll ich jetzt groß tun?", fragt er.
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