Die Türkei im Zwiespalt
Die Tage, in denen Erdoğan Israel als "Land der Kindermörder" und "Terrorstaat" bezeichnete, waren schon vor dem Angriff der Hamas vorbei: Im Frühling war Israels Staatsoberhaupt Jitzak Herzog in Ankara; Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hätte, nach einem Treffen in New York, demnächst folgen sollen, musste aber kurzzeitig krankheitsbedingt absagen. Hinter den Bemühungen, die bilateralen Beziehungen zu verbessern, stecken auch energiepolitische Interessen: Erdoğan möchte Erdgas aus den israelischen Fördergebieten im Mittelmeer über türkische Pipelines nach Westeuropa leiten. Ankara will zum regionalen Umschlagplatz für Gas werden.
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Ein Kinderspiel wäre die Vermittler-Rolle aber nicht: Die türkische Bevölkerung ist zu großem Teil gegen Israel, zuletzt durften pro-palästinensische Demos im Land stattfinden. "Es überwiegt die Auffassung, die Hamas habe nicht anders können, sie sei durch Israels Palästina-Politik zu einem Angriff gezwungen gewesen", sagt Politikwissenschaftler Hüseyin Çiçek. Zudem wird Erdoğan im Parlament von der islamistischen Kleinpartei Hüda Par unterstützt, die als politischer Arm des (zerschlagenen) türkischen Hisbollah-Ablegers gilt. Die Hamas wird in der Türkei, anders als in Israel, der EU und den USA, nicht als Terrororganisation eingestuft.
Warum sich Erdoğan trotz der vorherrschenden Meinung der Bevölkerung ins Spiel gebracht hat? "Er will den anderen arabischen Staaten zuvorkommen. Die Türkei sieht sich als Führerin der islamischen Glaubensgemeinschaft, will diese Position nicht verlieren", sagt Çiçek.
Neben der Türkei drängen auch andere Länder in die Vermittler-Rolle: Ägypten unterhält als direkter Nachbar Gazas seit den 70er-Jahren diplomatische Beziehungen zu Tel Aviv, gilt als traditioneller Vermittler zwischen Israel und Palästina; zuletzt wurde im Mai 2021 ein Waffenstillstand vermittelt. Präsident Abdel Fattah al-Sisi ist zwar ein Erzfeind der Muslim-Bruderschaft, aus der die Hamas erwuchs, unterhält aber Kontakte zur sunnitischen Miliz.
Europa, etwa der deutsche Kanzler Olaf Scholz, unterstützt ägyptische Bemühungen – wohl wissend, dass es selbst im Nahen Osten wenig zu sagen hat.
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Saudi-Arabien und Israel haben sich zuletzt angenähert. Das gilt als Mitauslöser für den Angriff der Hamas, die die Annäherung verhindern wollte. Der Golfstaat gilt mit den zwei heiligsten Stätten des Islams, Mekka und Medina, als Schutzmacht der Palästinenser. Die Annäherung mit Israel macht die Saudis eigentlich zu einem attraktiven Vermittler. Doch nach dem Hamas-Angriff erinnerte das Königreich an seine "wiederholten Warnungen vor den Gefahren einer Eskalation infolge der anhaltenden Besatzung", am Freitag beendeten die Saudis zudem ihre Normalisierungs-Gespräche mit Israel – und nahmen sich mit der Schuldzuweisung aus dem Spiel.
Vermittler von Katar wiederum sollen, wie die Türkei, bereits Gespräche über eine Freilassung der Geisel mit der Hamas geführt haben. Israel nutzte Katar in der Vergangenheit zwar als Gesprächskanal nach Gaza. Gleichzeitig soll sich der Hamas-Chef Haniyeh im Emirat aufhalten, Katar ist neben dem Iran einer der größten Geldgeber der Hamas. Deswegen ist die Beziehung zu Israel eher schwierig. In Doha erstralten nach dem Angriff das Nationalmuseum und das Islamische Museum in den Farben Palästinas.
Russland hat von einer deutlichen Verurteilung des Hamas-Angriffs abgesehen und beide Seiten zur Waffenruhe aufgefordert – angesichts des eigenen Krieges in der Ukraine paradox. Moskau unterhält Beziehungen zu beiden Seiten, hält in Syrien iranische Revolutionsbrigaden von der Grenze zu Israel ab und hat die Hamas nicht als Terrororganisation eingestuft. Palästinenserpräsident Abbas ist letzte Woche nach Moskau gereist.
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China verhält sich ähnlich wie Russland: Eine Verurteilung der Hamas blieb aus, stattdessen rief man beide Seiten auf, an einer Zwei-Staaten-Lösung zu arbeiten. Peking sei bereit, dafür einen Rahmen zu schaffen, ließ der chinesische Außenminister seinen israelischen Amtskollegen wissen. Das Reich der Mitte strebt nach Einfluss in der Region, vermittelte im Frühling die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien. Dabei geht es China vor allem darum, dem geopolitischen Rivalen USA Konkurrenz zu machen.
Die USA waren einst die einflussreichste Macht im Nahen Osten: 1993 ging das Bild des Händedrucks zwischen Palästinenservertreter Jassir Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin vor einem Hände ausbreitenden US-Präsidenten Bill Clinton um die Welt. Heute schwindet ihre Macht. Ein Friedensabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien unter der Vermittlung von Washington hätte ein Coup werden sollen. Jetzt wurde es auf Eis gelegt. Als Militärmacht stehen die USA klar aufseiten Israels. Das spricht gegen ihre Rolle als Vermittler.
Ablenkungsmanöver
Selbstlos sind die Vermittlungsangebote alle nicht. Neben der Sicherung des eigenen Einflusses und der Machtposition nutzten viele Länder den Konflikt auch, "um von ihren eigenen, innenpolitischen Krisen abzulenken", sagt Çiçek: Russland will seinen Krieg in der Ukraine aus der Öffentlichkeit ziehen, die Türkei ihre Bombardierung in Nordsyrien.
Schlussendlich glaubt Çiçek aber weniger an den Alleingang eines Staates, sondern mehr an einen kollektiven Vermittlungsversuch: "Am ehesten von der Türkei, gemeinsam mit den Golfstaaten, Ägypten und Russland. So laufen die Staaten weniger Gefahr, von der eigenen Bevölkerung verurteilt zu werden, und können sich trotzdem international positionieren – eine notwendige Doppelstrategie."
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