Krawalle in Frankreich: Woher kommt die Wut in den Banlieues?
Seit dem Tod eines 17-Jährigen brennen jede Nacht die Vorstädte. Wie die sozialen Brennpunkte entstanden sind und warum die französische Politik gegen Parallelgesellschaften ein "Rückzugsgefecht" führt.
Straßenarbeiter kratzen die Überreste eines abgebrannten Kleintransporters mit einer Schaufel vom Asphalt. Ein älterer Herr spaziert vorbei; in der einen Hand ein Gehstock, in der anderen ein Einkaufssackerl.
Am Ortsplatz spielen Kinder. Ein Mädchen dreht sich mit ausgestreckten Armen im Kreis, bis ihm schwindelig wird, dann rennt es los. Daneben sitzt eine Gruppe von Männern beisammen. Sie unterhalten sich, einer deutet entrüstet auf die völlig verkohlte Fassade des Rathauses.
Es sind die Spuren der Nacht, die den "ganz normalen" Alltag in Garges-lès-Gonesse, eine Vorstadt von Paris, eintrüben. Hier und in vielen weiteren französischen Städten herrscht seit Dienstag Chaos, sobald die Sonne untergeht. Immer wieder gibt es Brandanschläge und Randale.
Wie konnte es soweit kommen? Die Ursachen für die derzeitigen Unruhen gehen weit zurück - ein Blick auf die aktuelle Situation und die Vergangenheit der "Banlieues":
Gerechtigkeit
Die Polizei antwortet auf die aktuellen Ausschreitungen mit Tränengas und Gummigeschossen, sie marschiert zu Zehntausenden auf – und wirkt doch machtlos gegen die Massen an Jugendlichen, die unter dem Slogan "Justice pour Nahel" ("Gerechtigkeit für Nahel") mobilisieren.
Nahel, das ist jener 17-jährige Bursch aus Nanterre, der am Dienstag bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten getötet wurde.
Der Polizist ist in U-Haft und sagt, er bedauere den Schuss. Die Politik bezeichnet den Schuss als "unverzeihlich" und ruft zur Ruhe auf. Und die Mutter stellt klar, sie sei nicht wütend auf "die Polizei", sondern auf "den Polizisten"‚ der ihrem Sohn das Leben genommen hat.
Die Versuche, zu kalmieren, fruchten nicht. Denn "wütend auf die Polizei" ist man in den Pariser Banlieues nicht erst seit Dienstag, sondern seit mehreren Jahrzehnten.
"Banlieue" heißt wörtlich übersetzt "Bannmeile" und bezeichnete im 12. Jahrhundert die Meile rund um die Stadt, die noch unter der Herrschaft des Stadtherren stand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge des Wirtschaftsbooms wurde Wohnraum en masse benötigt. Am Stadtrand, wo sonst die Oberschicht ihre Landsitze und die Mittelschicht ihre Einfamilien- und Reihenhäuser besaß, schossen binnen kürzester Zeit Großwohnsiedlungen aus der grünen Wiese.
Die Plattenbauten galten damals als modern, komfortabel – und regelrecht luxuriös im Gegensatz zu den winzigen, zugigen und teuren Appartements in Paris.
Vor allem in den westlichen und nördlichen Vorstädten siedelten sich Industriearbeiter an, die aus dem Maghreb (frühere französische Kolonien in Nordafrika, Anm.) rekrutiert worden waren und ihre Familien nachholten.
Als der Wirtschaftsboom endete, war aber plötzlich keine Arbeit mehr da. Mit der Arbeitslosigkeit kam die Kriminalität, kamen die sozialen Unruhen.
Rassismus
Die Mittelschicht zog weg, sobald sie es sich leisten konnte, die ärmere Schicht blieb – und fühlt sich vom offiziellen Frankreich nicht nur im Stich gelassen, sondern auch noch schikaniert.
So wird vor allem der Polizei immer wieder Rassismus vorgeworfen: Beamte würden Bürger, denen man den Migrationshintergrund ansieht, bei Kontrollen gezielt herauspicken (Stichwort: Racial Profiling) und mit übertriebener Härte vorgehen.
Weltweit für Entsetzen sorgte 2005 der Tod zweier Jugendlicher, die sich in einem Stromkasten vor der Polizei versteckt hatten. Auch damals gab es Randale. Der Fall Nahel weckt Erinnerungen.
Parallelgesellschaft
Das ist die eine Seite. Die andere Seite, die Mehrheitsbevölkerung Frankreichs, beunruhigt es, dass im abgeschotteten System Banlieue seit den 1990er-Jahren islamistische Gruppierungen an Einfluss gewonnen haben.
Ob Islamisten etwas mit den aktuellen Aufständen zu tun haben, ist nicht geklärt. Jedenfalls aber weisen sie ein wesentliches Merkmal von Radikalisierung auf: die Ablehnung des Staates und seiner Institutionen.
Die Wut der Randalierer beschränkt sich nämlich nicht auf die Polizei. Auch Schulen und Rathäuser werden angezündet, auch Feuerwehrleute im Einsatz attackiert.
"Sie glauben, sie hätten das Recht, unsere Institutionen zu zerstören", sagt Didier Leschi, Leiter des französischen Integrationsbüros, über die Randalierer.
Die Politik müsse "den Kampf gegen feindliche Ideologien" führen, befinde sich aber eher im "Rückzugsgefecht", sagt er.
Was also tut die Politik? Es gibt einen recht umfangreichen Katalog mit Maßnahmen für Prävention sowie Versuche, die Parallelgesellschaften durch Stadtentwicklung aufzubrechen.
Frankreich zählt mehr als 500 Problemviertel, so genannte "quartiers sensibles", in denen rund fünf Millionen Menschen leben. Seit den Nullerjahren wurden etliche Milliarden in die Sanierung investiert, um die Gegenden für die Mittelschicht attraktiv zu machen.
Das Hochhausviertel Le Val Fourré in Mantes-la-Jolie, in dem es bereits 1991 zu Krawallen mit Todesopfern kam, gilt mittlerweile als Vorzeigeprojekt.
Mantes-la-Jolie ist übrigens jene Vorstadt, in der in der ersten Nacht nach dem Tod von Nahel das Rathaus in Brand gesteckt wurde.
Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) konnte sich diese Woche in Paris hautnah ein Bild davon machen, welche Sprengkraft soziale Brennpunkte entwickeln können, wenn sie von der Politik zu lange vernachlässigt werden. Umso stärker sei nun ihr Antrieb, in Österreich aktiv etwas zu tun und auch die lokale Ebene stärker einzubinden, sagte sie.
Ihr Ministerium hat einen Segregationsbericht veröffentlicht, der Indikatoren für Parallelgesellschaften enthält: Migration, Arbeitslosigkeit, Bildung und Kriminalität. Raab orientiert sich damit am Modell in Dänemark, wo sie bereits im Mai auf Arbeitsbesuch war.
Vor einigen Wochen haben die zuständigen Referenten der Bundesländer für ihre Bezirke eine Auswertung erhalten, wie der KURIER erfuhr. Für die größeren Städte – in Oberösterreich beispielsweise sind das Linz und Wels – gab es eine Detailauswertung.
Nachdem die Datenlage nicht ideal ist, ist die Auswertung nur ein Anhaltspunkt – die Zuständigen vor Ort müssten selbst einschätzen, ob es Problem gibt. OÖ will über den Sommer prüfen und Maßnahmen setzen, heißt es.
Das Integrationsministerium stellt einen Fördertopf mit rund zwölf Millionen Euro für die kommenden zwei Jahre zur Verfügung.
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(kurier.at, lin)
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Aktualisiert am 02.07.2023, 11:32