Ungleiche Freunde: Der "spröde" Deutsche und der "rücksichtslose" Franzose

Ungleiche Freunde: Der "spröde" Deutsche und der "rücksichtslose" Franzose
Der französische Präsident Macron hat seinen Staatsbesuch in Deutschland wegen der anhaltenden Krawalle in Frankreich abgesagt. Das Treffen wäre für die deutsch-französische Beziehung wichtig gewesen.

Scholz geht in die Knie, den Finger am Auslöseknopf; Macron legt ihm die Hand auf die Schulter, beide lachen in die Kamera. "Voilà", ruft Macron. Ein Selfie mit den Staatsmännern – für eine pensionierte Französischlehrerin war das das Highlight von Macrons Besuch in Potsdam vor wenigen Wochen. Für die Social-Media-Manager der beiden wohl auch: Die Szene wurde sofort online verbreitet. Suggeriert sie doch Einheit und Nähe, wie es im vergangenen Jahr nur selten zu sehen war.

Verantwortlich für das angekratzte Verhältnis sind nicht nur die thematischen Uneinigkeiten – potenzieller NATO-Beitritt der Ukraine, EU-Erweiterung und -Verteidigung, Energiepolitik –  der beiden, sondern auch die Persönlichkeiten Olaf Scholz’ und Emmanuel MacronsBeide könnten unterschiedlicher nicht sein.

Der jüngste Präsident in der Geschichte Frankreichs (Macron war 39 Jahre alt, als er 2017 Präsident wurde) liebt die Bühne, den überraschenden Auftritt, ist gerne der "Visionär", der "Vorprescher", so loben einige Medien. Andere nennen sein Verhalten unüberlegt, rücksichtslos. Scholz hingegen gilt als zurückhaltend, Kritiker bevorzugen die Worte zaudernd, zögernd, unemotional und spröde. Erkennbar werden die Unterschiede etwa beim Posieren für Fotos: Macron gibt sich lässig vor der Kamera, eine Hand in der Hosentasche, während Scholz mit zusammengekniffenem Mund lächelt, eine Hand in die andere gelegt, als wolle er sich festhalten.

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Ungleiche Freunde: Der "spröde" Deutsche und der "rücksichtslose" Franzose

Macron, seine Frau Brigitte und Scholz 22. Juni in Paris: Macron liebt die Bühne, Scholz sichtlich weniger.

Am stärksten spiegeln sich die gegensätzlichen Persönlichkeiten aber in der Interpretation ihrer Ämter: Zwar ist Macron auch durch die französische Verfassung mit enorm vielen Befugnissen ausgestattet. Diese Machtfülle trifft auf ein enormes Selbstbewusstsein. "Macron schaltet sich stark in die Tagespolitik ein, obwohl dies eigentlich Aufgabe seiner Premierministerin ist", erklärt der Politologe Dominik Grillmayer vom Deutsch-französischen Institut. Scholz’ persönliche Zurückhaltung und sein fehlendes Führungsvermögen fielen noch stärker auf durch das machtverteilende, föderale deutsche System und eine schwierige Regierungskoalition aus drei Parteien, bei der die Kompromissfindung mühsam und langwierig ist.

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Wer führt wen?

Vielleicht, schreibt die deutsche Zeitfehlt der Beziehung auch eine klare Rollenverteilung, wie es sie bei Scholz' Vorgängerin Angela Merkel und Macron gab: "Macron war ambitioniert, Merkel steuerte mit viel Erfahrung das europäische Schiff." Zwar ist auch Scholz zwanzig Jahre älter als Macron, gegenüber europäischen Staats- und Regierungschefs besäße aber der Franzose mehr Erfahrung.

Dennoch wüssten beide, "dass es nicht ohne Partner geht. Weder Frankreich noch Deutschland können ihre Positionen im vereinten Europa allein durchsetzen. Sie brauchen einander", so Grillmayer.

GERMANY-FRANCE-POLITICS-DIPLOMACY

Groß inszenierte "unzertrennliche Freundschaft": Im Juni trafen sich Macron und Scholz in Potsdam, dem Wohnort des Kanzlers.

Was beide aktuell jedenfalls eint: Die Staatsmänner stehen innenpolitisch unter großem Druck. Erst sorgte Macrons Pensionsreform, nun der Tod eines 17-Jährigen durch einen Polizisten für Unruhen; in Deutschland streitet Scholz‘ Regierungskoalition in aller Öffentlichkeit. Und bekanntlich können auch Not und Notwendigkeit zusammenschweißen.

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