Brexit: Unterhaus will May per Gesetz zu Fristverlängerung zwingen

Theresa May.
Das Unterhaus wird immer unberechenbarer: Mit nur einer Stimme Vorsprung votierten die Abgeordneten gestern für eine erneute Brexit-Verschiebung.

Im Brexit-Chaos nimmt nun das britische Unterhaus das Heft in die Hand. Auf eine Lösung konnten sich die Abgeordneten gestern zwar noch immer nicht einigen. Sie wollen nun aber immerhin gesetzlich festschreiben, was auf gar keinen Fall passieren soll: Ein Brexit ohne Abkommen, also ein No-Deal-Brexit

Eine entsprechende Vorlage passierte das Unterhaus am Mittwochabend denkbar knapp - mit einer Mehrheit von nur einer Stimme: 313 Abgeordnete votierten für den Text, 312 dagegen. 

Bevor der Vorschlag zum Gesetz wird, muss er aber noch vom Oberhaus abgesegnet werden. Diesem soll er am Donnerstag vorgelegt werden. Danach müssen die Staats- und Regierungschefs der EU dem Vorschlag zustimmen. Sie wollen am kommenden Mittwoch darüber beraten.

Das Unterhaus will Regierungschefin May damit zu einem weiteren Antrag für eine Fristverlängerung bei der EU zwingen. Bislang war geplant, dass Großbritannien die EU am 12. April verlässt. Premierministerin Theresa May wollte bislang lediglich einen Aufschub bis 22. Mai, um so eine Teilnahme an der EU-Wahl von 23. bis 26. Mai zu verhindern.

Am Mittwochnachmittag waren die Augen zunächst auf May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn gerichtet, die erstmals Gespräche über einen parteienübergreifenden Kompromiss im Brexit-Streit aufnahmen. Corbyn nannte das Treffen "nützlich", es habe aber noch kein Ergebnis gegeben. Auch in der Frage eines zweiten Referendums habe es keine Einigung gegeben.

Für die weiteren Gespräche sollten zwei Verhandlungsteams gebildet werden. Auf Regierungsseite gehören Vizepremier David Lidington und Brexit-Minister Barclay dazu. Noch am Abend wollten beide Seiten angesichts des Zeitdrucks gemeinsam ein Arbeitsprogramm erstellen. Am Donnerstag soll den ganzen Tag verhandelt werden.

Zwei Staatssekretäre erklärten aus Protest Rücktritt

Der zaghafte Annäherungsversuch May sorgte indes gleich für heftige Reaktionen in ihrer Partei. Zwei Staatssekretäre traten aus Protest zurück: Der für den Brexit zuständige Chris Heaton-Harris und Nigel Adams, der Staatssekretär für den Landesteil Wales ist. Sie fürchten, der Bruch mit Brüssel könne nun nicht deutlich genug ausfallen. Damit sind in den vergangen zwölf Monaten bereits 36 Regierungsmitglieder zurückgetreten - fast alle im Streit um den Brexit. Weitere konservative Parlamentarier kündigten Widerstand an.

May unterstrich das gemeinsame Ziel, einen ungeordneten EU-Austritt ohne Abkommen zu vermeiden. Sollte das britische Parlament den Austrittsvertrag kurzfristig doch noch annehmen, plädiert EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker für einen weiteren Aufschub des Brexits um knapp sechs Wochen bis zum 22. Mai.

Juncker machte dies aber davon abhängig, dass noch vor dem 12. April eine stabile Mehrheit in London für den EU-Austrittsvertrag zustande komme. Das ist der Tag, für den nach derzeitigem Stand der Brexit vorgesehen ist. Zwei Tage vorher - also am Mittwoch nächster Woche - soll ein EU-Sondergipfel entscheiden, wie es beim Brexit weitergeht.

Brexit: Keine Lösung in Sicht

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) rief zum Daumendrücken für Premierministerin May auf, damit sie vielleicht doch noch einen Ausweg zur Vermeidung eines "Hard Brexit" finde. Auf die Frage nach einer möglichen Fristerstreckung sagte er nach dem Ministerrat in Wien, dies sei angesichts des unveränderten Chaos in London "pure Spekulation".

Mays Deal bereits drei Mal abgelehnt

Das britische Unterhaus hat den von May mit der EU vereinbarten Austrittsvertrag bereits drei Mal abgelehnt - sich aber bisher auch nicht auf eine andere Brexit-Variante einigen können. Um die Blockade zu durchbrechen, hatte die Regierungschefin am Dienstagabend angekündigt, eine weitere kurze Verschiebung des EU-Austritts zu beantragen und gemeinsam mit Oppositionsführer Corbyn nach einem parteiübergreifenden Kompromiss zu suchen.

Die Fristverlängerung sollte aber nicht über den 22. Mai hinausgehen - den Tag vor dem Beginn der Europawahl. May will unbedingt vermeiden, dass die Briten noch einmal mitwählen müssen. Der 12. April ist der Tag, bis zu dem Großbritannien nach britischem Recht über eine Teilnahme an der Wahl entscheiden muss.

Die Hoffnung ist also, am 22. Mai doch noch mit Vertrag aus der EU auszutreten. Dann könnte eine Übergangsfrist bis Ende 2020 in Kraft treten, die Chaos vermeiden soll. Die Regierung bestätigte jedoch, dass sie die Wahlkommission vorsorglich mit den Vorbereitungen für eine Teilnahme an der Europawahl beauftragt hat.

Mays Ankündigung ist eine dramatische Kehrtwende. Bisher hatte sie Zugeständnisse an die Opposition abgelehnt. Denn diese will eine weichere Form des Brexits. Corbyns Labour-Partei fordert unter anderem, Großbritannien solle in einer Zollunion mit der EU bleiben und eine enge Anbindung an den Binnenmarkt suchen. May betonte vor dem Treffen mit Corbyn aber die Gemeinsamkeiten.

Zunächst keine Abstimmungen über Alternativen

Sollte bis zum 12. April weder der Austrittsvertrag noch eine Alternative beschlossen sein, droht ein ungeordneter Austritt aus der EU mit drastischen Folgen für viele Lebensbereiche. Die EU-Kommission forderte die Wirtschaft auf, sich im Falle eines "No Deals" unter anderem auf Zollkontrollen einzustellen. Juncker warnte trotz Mays Kurswechsel: "Ich glaube, dass ein "No Deal" am 12. April um Mitternacht jetzt ein sehr wahrscheinliches Szenario ist."

Sollten die Gespräche mit Corbyn kein Ergebnis bringen, will die Regierungschefin das Parlament verbindlich über Alternativen abstimmen lassen. Ursprünglich wollte sich Großbritannien schon am 29. März von der Staatengemeinschaft trennen. Doch wegen des Brexit-Streits im Parlament war der Termin nicht zu halten.

Briten sollen auch nach einem ungeregelten EU-Austritt ohne Visum für bis zu drei Monate in die EU reisen dürfen, wenn Großbritannien EU-Bürgern dieselben Rechte einräumt. Darauf einigten sich Unterhändler des EU-Parlaments und der EU-Länder, wie der Rat der Mitgliedsländer mitteilte. Die Regel sieht die Möglichkeit zu Reisen ohne Visum für bis zu 90 Tage vor, jeweils in einem Zeitraum von 180 Tagen. Über die Visumfrage hatten die EU-Unterhändler lange gestritten.

EU-Gegner starteten Kampagne zu Abwahl von "Tory-Verrätern"

In ihrem Zorn über den bisher ausgebliebenen Brexit nehmen britische EU-Gegner jene konservativen Abgeordneten ins Visier, die am gestrigen Mittwoch dem Gesetz für eine Brexit-Verschiebung zur Mehrheit verholfen haben. "Wählt die Tory-Verräter ab. Jetzt ist die Zeit dafür", heißt es in einem Aufruf der Kampagne "Leave.eu". Wer noch nicht Tory-Mitglied sei, solle dafür der Partei beitreten.

Erst am Freitag war der angesehene Abgeordnete Dominic Grieve in seinem mittelenglischen Wahlkreis Beaconsfield von den lokalen Tory-Mitgliedern abgesetzt worden. Mit dem "Deselection" genannten Verfahren können die Parteimitglieder aktuellen Abgeordneten eine neuerliche Kandidatur bei den nächsten Unterhauswahlen verwehren. Allerdings hat die Parteiführung die Möglichkeit, sich über diese Voten hinwegzusetzen. Das Misstrauensvotum gegen Grieve war von einem ehemaligen Politiker der europafeindlichen UKIP, Jon Conway, initiiert worden. Führende Tory-Abgeordnete, darunter auch der Brexit-Wortführer Boris Johnson, stellten sich nach dem Votum demonstrativ hinter Grieve.

Leave.eu veröffentlichte unmittelbar nach dem Votum für den Brexit-Aufschub auf Twitter eine Liste von 14 Tory-Abgeordneten, die gegen einen No-Deal-Brexit gestimmt haben. Konservative Parteimitglieder in den betreffenden Wahlkreisen wurden aufgerufen, sich der Abwahlkampagne anzuschließen, "und uns zu helfen, die Remainers rauzuwerfen!"

Wegen des Richtungsstreits in der Europafrage droht den Tories bei vorgezogenen Unterhauswahlen ein Debakel. Nach Ansicht von Beobachtern ist dies einer der Gründe, warum sich Premierministerin Theresa May nun doch zu Gesprächen mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn über einen Brexit-Kompromiss entschlossen hat. Ohne Lösung scheinen Unterhauswahlen vielen unausweichlich. Diese könnten aber auch die Konsequenz einer Verständigung Mays mit Corbyn sein, wenn die Premierministerin wegen Zugeständnissen an Labour von den Brexit-Hardlinern in ihren eigenen Reihen gestürzt werden sollte.

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