Kardinal Koch: "Da werden die Wurzeln Europas angegriffen“
KURIER: Papst Franziskus hat zuletzt mit Aussagen zum Ukraine-Krieg für Irritationen gesorgt? Wie würden Sie seine Äußerungen einordnen?
Kurt Koch: Der Papst ist konkret auf die Frage des Journalisten eingegangen und hat sie beantwortet. Ohne diesen Kontext kann man seine Aussagen schwer verstehen. Man muss sie vielmehr im Gesamtkontext seiner Aussagen sehen, wie dies auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin verdeutlicht hat: dass der Papst sehr darunter leidet, dass dieser Krieg nicht zu Ende geht und so viele Opfer fordert. Deswegen fragt sich der Papst, wie der Krieg beendet werden kann. Dies ist sein Anliegen.
Nun ist es nicht das erste Mal, dass dieser Papst sich Vorwürfen ausgesetzt sieht, tendenziell zugunsten Russlands Partei zu ergreifen. Könnte dabei auch das Verhältnis zur russischen Orthodoxie eine Rolle spielen?
Wenn man die gesamten Aussagen des Papstes betrachtet, spricht er fast immer von der bedrängten Ukraine. Da kann man sicher nicht sagen, dass er Partei für Russland ergreift; er ergreift vielmehr Partei für die Opfer. Und zweitens hat er das Angebot zu vermitteln gemacht. Und wer vermitteln will, muss Türen offenlassen, auch wenn das falsch interpretiert werden kann. Was die Haltung der russischen Orthodoxie zum Krieg betrifft, so ist das für uns eine schwer verständliche Position; umso mehr als Christen, sogar orthodoxe Christen, einander umbringen. Das ist eine furchtbare Botschaft an die Welt, welche dem Christentum als Ganzem schadet.
Sehen Sie da einen Ausweg?
Wie gesagt, wir dürfen die Türen nicht schließen. Aber momentan, solange der Krieg andauert, wird der Dialog sehr schwierig bleiben.
Vatikanintern sorgt seit einigen Wochen ein anonymes Papier für Aufregung, das massive Kritik am Heiligen Vater übt und von vielen als ein Programm für das künftige Pontifikat gelesen wird …
Ich weiß nicht, wer das Papier verfasst hat, wer und wie viele dahinterstehen. Zu anonymen Papieren nehme ich deshalb nicht Stellung.
Mit großen Erwartungen ist die Bischofssynode im Herbst verbunden – mit ihr soll der von Papst Franziskus initiierte Synodale Prozess einen vorläufigen Abschluss finden. Wie sehen Sie diesem Ereignis entgegen?
Das Hauptthema der Synode ist Synodalität. Aber was heißt das? Das herauszufinden, ist die Aufgabe, um Wege in die Zukunft zu finden. Dabei ist es wichtig, Synodalität (das gemeinschaftliche Prinzip; Anm.) und Primat (Vorrangstellung des Papstes; Anm.) zusammen zu sehen. Das ist heute sehr oft nicht der Fall. Man sagt oft: früher war die Kirche hierarchisch, heute ist sie synodal. Das ist ein falsches Geleise. Das sieht man schon bei der Bischofssynode selbst: Alle Mitglieder können mitberaten und abstimmen; doch das Ergebnis dieses Prozesses geht dann an den Papst zur Entscheidung.
Was heißt dann Synodalität?
Das Wort „Synode“ ist zusammengesetzt aus „hodos“ (= Weg) und „syn“ (= mit). Die ersten Christen werden in der Apostelgeschichte als „Anhänger des Weges“ bezeichnet. Denn sie glauben an Jesus Christus, der sich selbst als „Weg“ offenbart hat, und gehen mit ihm gemeinsam den Weg. Die Kirche ist eine Weggemeinschaft des Glaubens, die zwar hierarchisch strukturiert ist, in der aber alle synodal diesen Weg gehen und zum Zeugnis des Glaubens berufen sind.
Nun gibt es aber doch auch sehr konkrete Reformerwartungen – etwa im Sinne des Synodalen Weges (Reformprozess von Deutscher Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken; Anm.) der deutschen Kirche. Könnte es nicht sein, dass am Ende dann die Enttäuschungen erst recht groß sind?
Der Papst hat solche Erwartungen jedenfalls nicht geweckt; er hat immer klar gesagt, worum es ihm geht. Wenn andere, wie in der Kirche in Deutschland, ihre eigenen Erwartungen formuliert haben, müssen sie sich fragen, wie sie dann mit den Enttäuschungen umgehen werden.
Sie haben sich mehrfach sehr kritisch gegenüber dem Synodalen Weg geäußert. Nun ist dieser vorerst zu einem Abschluss gekommen – aber das Ringen geht weiter. Wie sehen Sie diese Entwicklungen?
Es sind Gespräche zwischen Vertretern der deutschen Bischöfe und solchen der Kurie im Gange. Zwei Treffen hat es schon gegeben, am 22. März gibt es ein weiteres – und dann werden wir sehen …
Erzbischof Georg Gänswein hat vor einem Jahr in einem KURIER-Interview zu dem Thema gemeint: „Ich hoffe und bete, dass es nicht zur Kirchenspaltung kommt …“ Teilen Sie diese Sorge?
Ich bete auch darum. Ich denke zwar nicht, dass die deutschen Bischöfe eine Spaltung wollen. Doch die Vorstellungen, wie die Kirche erneuert werden kann, liegen doch sehr weit auseinander. Wie gemeinsame Wege in der Gesamtkirche wieder gefunden werden können, muss der Inhalt der kommenden Gespräche sein.
Ihr Vorgänger an der Spitze des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, hat gemeint, wenn die Forderungen des Synodalen Weges umgesetzt würden, wäre dem katholischen Verständnis des Bischofsamts „das Genick gebrochen“ …
So drastisch würde ich es nicht formulieren. Aber sehr wohl, dass in den Dokumenten die besondere Stellung des Bischofs nicht in genügender Weise reflektiert ist. Es ist stets von Synodalität die Rede; doch worin dann die wirklich undelegierbare Verantwortung des Bischofs liegt, wird nicht klar ausgesagt.
Wie lautet Ihre zentrale Kritik an dem Projekt?
Sicher steht dahinter ein positives Anliegen. Ausgegangen ist der ganze Prozess ja von den Fällen sexuellen Missbrauchs. Was mir jedoch fehlt, sind Vergleiche: Wir haben jetzt den Bericht der Evangelischen Kirche in Deutschland vorliegen, der zeigt: sie hat genau dieselben Probleme und denselben Umgang mit dem Missbrauchsthema – aber sie hat keine „katholische Sexualmoral“, ein anderes Amtsverständnis, keinen Zölibat und sie hat Pastorinnen. Damit will ich nicht in Frage stellen, dass es beim Missbrauch systemische Gründe gibt. Aber ob der Synodale Weg in Deutschland wirklich die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat, da habe ich meine Zweifel.
Was wären „systemische“ Gründe? Sind das spezifisch katholische?
Es gibt sicher spezifisch katholische Gründe – aber diese kann nur ein Vergleich mit anderen Kirchen zeigen.
Oft wird ja der Zölibat in diesem Kontext genannt. Nun hat der Papst selbst erklärt, der Zölibat sei prinzipiell nicht festgeschrieben, sondern eine kircheninterne Regelung …
Jeder, der die Glaubenslehre der katholischen Kirche kennt, weiß das. Schon das Konzil sagt, dass der Zölibat „nicht notwendig“ zum Priesteramt gehört, dass er ihm aber wesensgemäß ist.
Aber die Frage der Frauenweihe hängt theologisch höher, richtig?
Die Frage des Zölibats ist keine Glaubensfrage, sondern eine der Kirchendisziplin, welche die Kirche ändern könnte, wenn sie dies will. Wir haben ja die katholischen Ostkirchen, in denen die Priester verheiratet sind – allerdings nicht die Bischöfe; die Frage der Frauenweihe hingegen ist eine Frage des Glaubens; sie hat eine andere Qualität.
Die ist also durch Johannes Paul II. endgültig entschieden?
So hat Papst Johannes Paul II. seine Entscheidung verstanden, und sowohl Benedikt XVI. als auch Franziskus haben sich darauf bezogen und erklärt, dass diese Frage nicht offen ist.
Wir haben jetzt viel von innerkirchlichen Fragen geredet. Aber ist das eigentliche Problem nicht, dass die Kirche weitestgehend ihre gesellschaftliche und kulturelle Prägekraft eingebüßt hat, siehe etwa jüngste Entwicklungen in Frankreich, wo das Recht auf Abtreibung in die Verfassung kommt, die aktive Sterbehilfe legalisiert werden soll …?
Da stimme ich Ihnen zu. Ich würde aber bei dem genannten Beispiel weiter gehen: Der Einsatz für das Leben auch am Anfang und am Ende ist nicht alleine die Verantwortung der katholischen Kirche, sondern ist europäisches Erbe. Wenn das Recht auf Leben in der Weise infrage gestellt wird, dass das Gegenteil in die Verfassung eines Landes aufgenommen wird, dann werden die Wurzeln der europäischen Zivilisation angegriffen. Da müssten eigentlich alle wachen Europäer zusammenstehen.
Sehen Sie diese Wurzeln auch sonst gefährdet?
Ja, ich denke, was die Religionsfreiheit, die Gewissensfreiheit angeht, die tief in der jüdisch-christlichen Tradition wurzeln. Doch auch dieses Recht sehe ich heute nicht mehr hinreichend gewährleistet.
Inwiefern?
Zu diesen Freiheiten gehört auch, dass man in der Öffentlichkeit zu seinen Überzeugungen stehen darf. Die Tendenz geht heute aber sehr stark in Richtung Privatisierung des Glaubens. Wenn aber die Religion kein öffentliches Thema mehr sein darf, dann ist die Gesellschaft interreligiös nicht dialogfähig. Denn für viele Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, ist nicht das Christentum das Problem, sondern die Religionslosigkeit in der Gesellschaft. Ich kenne beispielsweise Muslime, die ihre Kinder in den katholischen Religionsunterricht schicken, weil sie wollen, dass ihre Kinder eine religiöse Bildung bekommen.
Ist die Kirche hier zu leise, zu mutlos geworden?
Das würde ich so sagen. Papst Franziskus hat zu Beginn des Synodalen Weges einen Brief an das „Volk Gottes in Deutschland“ geschrieben, worin es heißt: Eure erste Aufgabe ist die Evangelisierung, die Verkündigung des Glaubens. Wenn sie nicht im Mittelpunkt steht, dann ist etwas verloren gegangen. Das muss die Kirche erst selbst wieder entdecken.
Sie sind in Wien anlässlich des 20. Todestags von Kardinal König. Was hat für Sie seine Persönlichkeit ausgemacht?
Wir feiern mit seinem Todestag auch den 60. Jahrestag seiner Gründung von Pro Oriente. Diese Stiftung hat wesentlich zur Versöhnung in der Kirche von Ost und West beigetragen und geholfen, offizielle Dialoge mit den Ostkirchen zu beginnen. Kardinal König hat auch den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen sehr intensiv gepflegt. Er ist ein großer Europäer und auch ein herzensguter Mann gewesen. Ich bin ihm einmal in Luzern begegnet, als er seinen früheren Sekretär Walter Kirchschläger (Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten Rudolf K.; Anm.) besucht hat. Wir haben lange über Gott und die Welt gesprochen – als dann aber in der Familie Kirchschläger die Kinder nachhause gekommen sind, hat er sich ihnen sofort zugewandt und sich mit ihnen abgegeben. Ich habe dies als ein sehr sensibles Zeichen seines feinen Charakters empfunden.
Kurt Koch
geb. 1950 im Kanton Luzern (CH), 1982 Priesterweihe, 1995 bis 2010 Bischof von Basel (Bischofsweihe durch Papst Johannes Paul II.)
Vatikan/Rom
seit 2010 Präsident (ab 2022: Präfekt) des Päpstlichen Rates (seit 2022: Dikasterium) zur Förderung der
Einheit der Christen
Pro Oriente
Koch war diese Woche anlässlich des 20. Todestags von Kardinal König (1905–2004) und des 60. Gründungstags von Pro Oriente (von König initiierte kirchl. Stiftung für den Dialog zwischen Ost und West) in Wien
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