Gänswein: "Ich hoffe und bete, dass es nicht zur Kirchenspaltung kommt"
KURIER: Herr Erzbischof, die Veröffentlichung einzelner Passagen aus Ihrem Buch kurz nach dem Tod von Benedikt XVI. (31. Dezember 2022; Anm.) hat für viele Irritationen gesorgt. Wie sehen Sie das im Rückblick?
Georg Gänswein: Mit dem italienischen Verlag war eine Veröffentlichung nach dem Tod von Papst Benedikt vereinbart. Ich ging davon aus, dass das zu einem noch näher zu bestimmenden Zeitpunkt nach dem Tod sein würde. Aber da war ich selbst zu gutgläubig und konnte beim Verlag auch kein Veto mehr einlegen. Als dann zum Zeitpunkt der Beerdigung die ersten Textstellen veröffentlicht wurden, die, ehrlich gesagt, wenig vom gesamten Buch wiedergeben, war ich selbst sehr überrascht und beschämt.
Kardinal Schönborn, der mit dem Verstorbenen freundschaftlich verbunden war, hat angesichts Ihres Buches von einer „ungehörigen Indiskretion“ gesprochen. Hat Sie das nachdenklich gemacht, getroffen, geärgert …?
Es hat mich nachdenklich gemacht, ja. Ich habe mich dann gefragt, was „ungehörig“ bzw. „indiskret“ gewesen sein könnte. Kardinal Schönborn bezog sich offensichtlich auf einen Brief, den er vor der Papstwahl Kardinal Ratzinger übergeben hatte, in dem er ihm riet, die Wahl gegebenenfalls anzunehmen. Benedikt XVI. hat von diesem Brief selbst berichtet, allerdings ohne Namensnennung. Offensichtlich hat dieser Brief für Kardinal Ratzinger eine wichtige Rolle bei seiner Entscheidung, die Wahl anzunehmen, gespielt, sodass ich in der Veröffentlichung keine Indiskretion, sondern eher eine Verständnishilfe gesehen habe. Wenn hingegen Kardinal Schönborn das als eine Indiskretion empfunden hat, habe ich das zu akzeptieren.
Hätten Sie Schönborn rückblickend betrachtet fragen sollen, ob er mit seiner Nennung einverstanden ist?
Ja, rückblickend wäre es klug gewesen, ihn zu fragen.
Über diesen Fall hinaus wurde auch von anderen Kritikern moniert, Sie hätten aus Gesprächen zitiert, Dinge öffentlich gemacht, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Etwas in dieser Art gab es auch früher nicht …
Nein, das stimmt so nicht. Ich habe keine Geheimnisse offengelegt. Wichtig ist zu sehen, was die Absicht des Buches war und ist: In der vergangenen Zeit und auch jetzt noch wird Joseph Kardinal Ratzinger / Papst Benedikt XVI. in der Öffentlichkeit oft verzerrt dargestellt. Die Person und vor allem ihr Wirken für die katholische Kirche und auch für die Gesellschaft verdient eine wahrheitsgemäße Darstellung. Und das habe ich mit diesem Buch versucht.
Wie viel Kontinuität oder Diskontinuität sehen Sie zwischen den beiden Pontifikaten? Da gibt es ja diametrale Sichtweisen.
Beide Päpste – und jeder Papst an sich – sind zunächst einmal die ersten Zeugen des Evangeliums und Nachfolger des Apostels Petrus als Bischof von Rom. Das ist ihre wichtigste und vornehmste Aufgabe. Dass Päpste auch unterschiedliche Charaktere, Begabungen, Interessen haben, liegt auf der Hand. Benedikt und Franziskus unterscheiden sich durch ihre Biographie, Mentalität und Sozialisation. Aber ich empfinde das nicht als konträr, sondern als komplementär. Und ich halte Zuschreibungen wie „Wahrheit“ gegen „Barmherzigkeit“ nicht nur für simplifizierend, sondern für schlichtweg falsch.
Sehen Sie Entwicklungen, hinter die ein künftiger Papst nicht mehr zurück können wird, etwa auch auf der symbolischen Ebene, Stichworte: Auszug aus dem Apostolischen Palast, einfache Kleidung etc.?
Worauf Sie da anspielen, sind, mit Verlaub, Äußerlichkeiten. Was heißt denn Auszug aus der Papstwohnung? Das ist eine höchst persönliche Entscheidung von Papst Franziskus gewesen, die zu respektieren ist. Er selbst hat die Erklärung dazu geliefert, warum er es vorzog, im Gästehaus Santa Marta zu wohnen. In leicht humoristischer Weise antwortete er in einer Audienz für Jugendliche auf diese Frage, es seien „psychologische Gründe“ gewesen, dass er lieber in Santa Marta wohnen möchte. Mit der Ablehnung von Luxus oder dergleichen hat das nichts zu tun. Um hier mit einem Mythos, der sich zäh hält, aufzuräumen: In der päpstlichen Wohnung im Apostolischen Palast ist nichts Luxuriöses zu finden. Freilich ist ein Gebäude aus der Renaissancezeit äußerlich ein respektables Phänomen, das Eindruck macht. Er könne nicht in großen Räumen und nicht ohne Menschen um ihn herum leben, so Papst Franziskus im O-Ton. Sollte sich eines Tages ein Papst anders entscheiden, sähe ich keinerlei Schwierigkeiten. Im Laufe der Geschichte haben Päpste in ganz unterschiedlichen Behausungen gelebt.
Dennoch hat dieses fast zehnjährige Nebeneinander von Franziskus und Benedikt zu Parteiungen geführt, fast so, wie es Paulus im Ersten Korintherbrief beschreibt („Ich halte zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kephas …“, 1 Kor 1,12; Anm.) Wäre das vermeidbar gewesen?
Zunächst muss ich Ihre Frage entdramatisieren. Von Parteiungen zu reden, halte ich für unzutreffend. Schon gar nicht kann von einem Konflikt zwischen Franziskus und Benedikt die Rede sein. Aber ja, es haben sich im Laufe der Jahre wohl zwei Fangemeinschaften gebildet, die sich immer wieder auch medial und öffentlich einander entgegengestellt haben. Das ist nicht gut gewesen. Ich glaube aber nicht, dass das am Wohnort Benedikts im Vatikan oder an anderen Äußerlichkeiten gelegen hat.
Wäre also nichts gewonnen, wenn in Zukunft ein zurückgetretener Papst wieder Kardinalsrot anlegt und in ein Kloster in seinem Heimatland zieht?
Ein Papst, der auf sein Amt verzichtet, kehrt nicht einfach wieder ins Kardinalskollegium zurück, egal wo er wohnen würde. Der Bischof von Rom, der Papst der katholischen Kirche, geht in die Geschichte ein als der, der er am Ende war. Sicher, Bilder spielen eine größere Rolle denn je, und die Bilder von zwei Männern in weiß waren zunächst ungewohnt. Die Behauptung aber, dass das Verwirrung gestiftet hätte, halte ich für falsch. Auch ein emeritierter Kardinal trägt weiterhin seine rote Kardinalssoutane.
Benedikt wurde immer wieder vorgeworfen, sich entgegen seinem ursprünglichen Versprechen, sich als stiller Beter zurückzuziehen, doch immer wieder in innerkirchliche Debatten einzumischen.
Gegenfrage: Heißt schweigen, man sieht und hört mich nicht mehr? Benedikt hat sich in ein Kloster zurückgezogen. Papst Franziskus hat Benedikt regelmäßig besucht und ihn zu bestimmten kirchlichen Ereignissen eingeladen, weil er auch öffentlich sagte, dass der emeritierte Papst kein „Museumsgegenstand“, sondern eine „Institution“ ist. Den Einladungen ist Benedikt gern gefolgt, solange es seine Gesundheit zugelassen hat.
Wurde Benedikt von sogenannten „konservativen“ Kreisen instrumentalisiert?
Lassen wir die Zuschreibung „konservativ“ weg – aber ja, in einigen Punkten war eine Instrumentalisierung nicht zu übersehen.
War der Fall des Buches von Kardinal Sarah, das eine Co-Autorenschaft von Benedikt behauptete und als Intervention gegen eine Aufweichung des Pflichtzölibats interpretiert wurde, solch eine Instrumentalisierung?
Die von Ihnen genannte Angelegenheit war etwas vielschichtiger. Ich bin überzeugt, dass Kardinal Sarah, ein lauterer und grundehrlicher Mann, nicht wollte, dass der Beitrag, den Papst Benedikt für sein Buch schrieb, Anlass für die Behauptung einer Co-Autorenschaft war. Das führte leider auch zu in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Missverständnissen, die auch von bestimmter Seite geschürt wurden.
Die Kirche befindet sich derzeit mitten im von Papst Franziskus initiierten Synodalen Prozess? Was erwarten Sie sich davon – und wie verhält sich dieser Prozess zum deutschen Synodalen Weg?
Ich erlaube mir, Ihre Frage zu präzisieren. Sie sprechen von einem von Papst Franziskus initiierten Synodalen Prozess und fragen dann, wie sich dieser zum deutschen Synodalen Weg verhält. Papst Franziskus spricht von einer Weltbischofssynode zur Synodalität. Die katholische Kirche in Deutschland hat einen sogenannten Synodalen Weg „erfunden“. Das sind zwei unterschiedliche Realitäten. Die Weltbischofssynode hat zunächst mit dem Synodalen Weg in Deutschland, wie wir ihn erlebt haben, nichts zu tun. Aufgaben, Herausforderungen und Ziele der Weltbischofssynode sind, kraftvolle Antworten in der Frage der Synodalität in der katholischen Universalkirche zu geben. Ursprung und Absicht des Synodalen Weges waren, eine Antwort auf die Missbrauchskrise in der katholischen Kirche in Deutschland zu geben. Wer in den vergangenen Jahren den Synodalen Weg verfolgt hat, muss doch unverkrampft feststellen, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Hingegen sind andere Intentionen, andere Ziele und andere Absichten mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Der Brief, den Papst Franziskus im Juni 2019 an die deutschen Katholiken gerichtet hat, legt seine Vorstellungen über Absicht und Ziel von Synodalität deutlich und klar dar. Dieses päpstliche Schreiben wurde allseits zwar hoch gelobt, blieb aber wirkungslos. Ich selbst bin neugierig, wie sich bei der Weltbischofssynode im kommenden Oktober weltkirchliche Vorstellungen zur Synodalität und die bereits vorhandenen Ergebnisse des Synodalen Wegs „vertragen“ werden.
Könnte es sein, dass der Papst mit dem Synodalen Prozess auch den deutschen Weg einhegen oder einfangen möchte?
Wenn ich in die Weltkirche hineinschaue, dann ist die Kraft des Glaubens in Deutschland schwach, das Licht am Ausgehen. In anderen Ländern hingegen ist es um den Glauben viel heller.
Wobei ja die Proponenten des Synodalen Wegs mit ihrem Programm eben dieses Licht wieder zum Leuchten bringen wollen …
Wenn es so wäre, müsste dann das Licht nicht jetzt schon heller geworden sein? Das Gegenteil ist doch der Fall. Sich um Strukturfragen zu streiten, ist nicht das, was die Menschen suchen und brauchen – ganz unabhängig davon, ob das theologisch möglich ist. Die Menschen wollen den Glauben kennenlernen, den Glauben leben und den Glauben vertiefen.
Manche warnen bereits, es könnte zum zweiten Mal in der Geschichte eine Kirchenspaltung von deutschem Boden ausgehen …
Wenn man in Deutschland die inzwischen deutlichen römischen Signale nicht hört oder hören will, dann wird es gefährlich und bedrohlich. Ich hoffe und bete, dass es nicht dazu kommt.
Georg Gänswein
geb. 1956 in der Nähe von Freiburg/Breisgau (Baden-Württemberg), vier jüngere Geschwister, der Vater war Schmied, die Mutter Hausfrau, Skilehrer, Pilotenschein; 1984 Priesterweihe in Freiburg; seit 1995 an der Römischen Kurie tätig, daneben Lehrauftrag für Kirchenrecht an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom; ab März 2003 Privatsekretär von Kardinal Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.
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