Bischof Oster: "Das christlich geprägte Europa ist im Begriff, seine Sendung zu verspielen"
KURIER: Wie feiern wir heuer Weihnachten, was ändert die Pandemie in Bezug auf Glauben und Kirche?
Stefan Oster: Wir haben zwei Erfahrungen gemacht: Der Advent war deutlich ruhiger, die „stade Zeit“ für viele heuer wirklich eine solche; und das kann uns helfen, ein wenig in die Tiefe zu kommen. Zudem haben wir in den Pfarren unglaublich viel Kreativität und Bemühen erlebt, Andachten, Krippenspiele etc. unter den herrschenden Bedingungen zu ermöglichen. Es wird zu Weihnachten auch wieder Streaming-Gottesdienste geben, mit denen wir auch schon im ersten Lockdown sehr gute Erfahrungen gemacht haben, die Zugriffszahlen waren ganz erstaunlich …
Diese Streaming-Gottesdienste wurden viel diskutiert. Manche befürchten ja auch, dass sich die Menschen daran gewöhnen könnten, am Sonntag nicht in die Kirche zu gehen …
Natürlich ist das Verhalten vor dem Fernseher ein Konsumverhalten. Die gibt es zwar auch im realen Gottesdienst, aber sie verstärkt sich sicher, wenn man vor dem Bildschirm sitzt. Wie feiert man mit vor dem TV-Gerät – bekreuzigt man sich, steht man auf, kniet nieder? Das haben wir nicht eingeübt.
Sehen Sie auch die Chance, dass durch die erzwungene Reduktion der Kern des Festes stärker zum Leuchten kommt?
Das wäre natürlich eine Hoffnung. Aber realistischerweise muss man sagen, das wird nicht bei allzuvielen der Fall sein. Insgesamt wird Corona wohl eher Entkonfessionalisierungstendenzen beschleunigen. Aber gleichzeitig wissen wir von den biblischen Überlieferungen, dass Gott Krisen zulässt, damit sich Menschen bekehren. Die Frage, was uns Gott mit einer solchen Krise sagen will, sollten wir uns also durchaus stellen.
Hat die Kirche sich zu schnell den Vorgaben des Staates bei der Pandemiebekämpfung angepasst? In Frankreich haben die Bischöfe etwa gegen die Obergrenze für Gottesdienstbesucher protestiert.
In Bayern haben wir mit den staatlichen Stellen einen intensiven Austausch. Wir haben also nicht die Erfahrung gemacht, dass uns etwas oktroyiert worden ist. Dass die Kirchen beim ersten Lockdown schnell nachgegeben haben, liegt wohl daran, dass das für uns und für alle eine völlig neue Situation war. Es waren vor allem ältere Menschen betroffen – und die Gottesdienstbesucher sind im Schnitt auch ältere Menschen. Daher war die Vorsicht eine Frage der Solidarität. Die Debatte über Religionsfreiheit, darüber, was uns die Liturgie und die Sakramente wert sind, die führen wir mittlerweile selbstbewusster, auch weil wir gemerkt haben, dass unsere Schutzmaßnahmen greifen. Gerade eben haben wir bayerischen Bischöfe deutlich protestiert, als die Regierung beschlossen hat, nach 21 Uhr am Heiligen Abend keinen Gottesdienst mehr zuzulassen.
Aber haben Sie Verständnis, wenn Bischöfe oder Gläubige gegen staatliche Corona-Maßnahmen protestieren?
Das hängt davon ab – wenn die kirchliche Seite nicht eingebunden wird, dann habe ich schon Verständnis. Es geht um Religionsfreiheit, die man nicht preisgeben darf. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch den Missbrauch der Religionsfreiheit. Da gehen dann sogenannte Corona-Kritiker oder -Leugner auf die Straße und brechen Regeln unter dem Deckmantel von Religionsfreiheit. Diese Instrumentalisierung weisen wir natürlich zurück.
In dem Zusammenhang wird auch immer wieder gefragt: Wie systemrelevant ist die Kirche?
Wir sind nicht systemrelevant, sondern „heilsrelevant“. Das ist natürlich ein Begriff des Glaubens. Unser Dienst ist es, Menschen zu helfen, mit ihrem Herrgott versöhnt zu leben – hier und auf dem Weg, wie wir glauben, in die ewige Heimat. Aber ganz grundsätzlich glaube ich schon auch, dass wir als Kirche für eine funktionierende Demokratie systemrelevant sind. Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, dann glauben sie ja nicht nichts, sondern jeden möglichen Mist – Stichwort Verschwörungstheorien. Wenn der Glaube verloren geht, dann sucht sich die Sehnsucht nach einem Mehr eben andere Kanäle. Und wenn man die Fragmentierungen und Polarisierungen in unserer Gesellschaft betrachtet, dann hat die Kirche hier sicherlich auch Systemrelevanz. Auch etwa was das Thema der Menschenwürde betrifft, die wir in die Mitte der Gesellschaft stellen.
Die deutsche Kirche hat sich mit dem „synodalen Weg“ auf einen nicht unumstrittenen Reformprozess eingelassen – mit ungewissem Ausgang. Sie zählen zur Minderheit jener Bischöfe, die sich bezüglich der einschlägigen Agenda immer wieder kritisch geäußert haben; auch Papst Franziskus dürfte Vorbehalte haben. Was erwarten Sie von diesem Prozess?
Ich glaube, dass wir Redebedarf haben. Und ich würde mir wünschen, dass es bei den umstrittenen Themen wie Sexualmoral oder Frauenweihe gelingen könnte, die Position der Kirche tiefer zu verstehen – jenseits der oberflächlichen gängigen Debatten. Aber ich merke, dass es uns faktisch kaum mehr gelingt, diese Positionen plausibel zu machen. Die Sicht des Glaubens ist etwas anderes als ein politisches Interesse. Ich habe bisher manches Gute beim „synodalen Weg“ erlebt – aber insgesamt frage ich mich schon, wohin die Reise geht. Was mich von den vier Themen am meisten interessiert, ist jenes der Macht. Da können wir am besten weiterkommen, denke ich. Bei diesem Thema ist das Evangelium so eindeutig, wenn es heißt, die Ersten sollen die Diener aller sein, bei euch soll es anders sein etc. Von daher beschäftigt mich sehr die Frage: Was heißt eigentlich Leitung in der Kirche? Da geht es zunächst um einen geistlichen Aspekt. Hier könnten wir viel Glaubwürdigkeit zurückgewinnen; bei den anderen Themen fürchte ich, dass die Enttäuschung am Ende größer ist als der Gewinn.
Wie ließen sich denn die von Ihnen angesprochenen, schwer vermittelbaren kirchlichen Positionen besser plausibel machen?
Ich glaube, die Kirche in ihrer volkskirchlichen Gestalt befindet sich in einem Übergangsprozess. Wir müssen einen größeren Bogen spannen: Worauf es ankommen wird, ist, dass Menschen die Erfahrung machen, dass in der Kirche etwas „anders“ ist, etwas aufleuchtet: eine Tiefe, eine Hoffnung, eine Schönheit, die Fähigkeit, mit Leid in anderer Weise umzugehen. Wenn Menschen Kirche so erfahren, dann lassen sich auch die genannten Themen in diesem größeren Kontext plausibilisieren. Ich denke auch, dass es gerade bei Jugendlichen eine große Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Sexualität gibt. Hier könnte es gelingen zu zeigen, dass es letztlich um Schönheit, Tiefe, Treue geht – dass Sexualität auch anders gelebt werden kann, als es der Zeitgeist suggeriert.
Sehen Sie diesen Abschied von der Volkskirche positiv – oder ist das eher eine Verlustanzeige?
Ich will keine Elitekirche – wiewohl ich glaube, dass die Kirche der Zukunft aus Menschen besteht, die ihr Christentum entschiedener leben wollen; im Sinne einer spirituellen und auch intellektuellen Durchdringung. Ich hoffe aber, dass diese kleiner gewordene Kirche dann wieder die Kraft hat, breit in die Gesellschaft hineinzuwirken und zu evangelisieren. Je fester die Kirche in ihrem Grund verwurzelt ist, desto weiter kann sie hinausgehen. Eine oberflächlich gewordene Volkskirche ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und hofft, dass der Betrieb weitergeht. Wir sind aber nicht dafür da, einen Betrieb aufrechtzuerhalten. Wir sind dafür da, das Evangelium in die Welt zu tragen.
Bei Papst Franziskus ist oft nicht ganz klar, wie er zu den innerkirchlichen Reformbewegungen steht. Wie nehmen Sie das wahr?
Er macht eine Spannung auf, die es einigen nicht leicht macht. Franziskus tritt Prozesse los, fordert eine Unterscheidung der Geister ein. Er lässt da unterschiedliche Positionen durchaus zu – gleichzeitig sagt er in einer Deutlichkeit, die ich bei Benedikt XVI. so nicht erlebt habe: Am Ende entscheide ich, ich bin der Papst. Das gilt wohl auch für die Agenda des „synodalen Wegs“.
Damit enttäuscht er aber wohl immer wieder die Erwartungen gerade jener, die zu seinen stärksten Anhängern zählen und ihre Reformhoffnungen auf ihn projiziert haben …
Ja, das wird so sein. Aber dass der Papst sich der katholischen Lehre verpflichtet fühlt, daraus hat er ja nie ein Hehl gemacht. Er wurde auch oft sehr einseitig rezipiert. Trotzdem setzt er bestimmte Schritte, die eine gewisse Spannung zur Lehre erzeugen, aber die Lehre hat er dabei schon im Blick.
Dieser Papst ist der erste Nichteuropäer seit dem frühen Mittelalter. Gleichzeitig ringt das ehemals christliche Europa um seine Identität …
Ich bin überzeugt, dass Europa mit seiner christlichen Prägung eine Sendung hat, die es im Begriff ist zu verspielen. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen der christlichen Entdeckung der Würde des Menschen, dessen, was wir mit Person-Sein meinen, und der Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet eine Sendung Europas für die Welt – nicht im kolonialistischen Sinn, sondern im Sinne einer Dienstfunktion. Darüberhinaus waren Christen auch immer fähig zur Begegnung mit anderen Kulturen – und diesen zugleich die Begegnung mit dem Evangelium zu ermöglichen. Derzeit erlebt Europa freilich einen Verlust des Christlichen. Dabei ist Pluralität zunächst etwas Gutes, aber nicht als Beliebigkeit, sondern jeweils im Blick auf die eigene Identität.
Stimmen Sie dem Satz zu „Europa wird christlich sein, oder es wird nicht sein“? Muss sich Europa wieder auf seine jüdisch-christlichen Wurzeln zu besinnen?
Die Fähigkeit zur Begegnung mit dem anderen gelingt dann, wenn wir im Eigenen verwurzelt sind.
Was bedeutet die Rede vom christlichen Europa für die Migrations- und Flüchtlingsthematik? Ist es unchristlich vor den Folgen der Massenmigration zu warnen?
Die Antwort auf die Frage hängt davon ab, wie sehr ich die Kraft zur Integration habe. Überwiegt die Angst vor der Überfremdung – oder betonen wir die Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen in Not? Es gibt hier kein Schwarz-Weiß – natürlich gibt es Grenzen. Man hat gesehen, dass sich Deutschland seit 2015 massiv verändert hat; und die Frage ist berechtigt, ob so etwas noch einmal verkraftbar wäre. Ich würde es hoffen, aber wenn ich Politiker wäre, würde ich dazu beitragen wollen, dass Migrationsbewegungen kanalisiert und nach Möglichkeit gleichmäßiger verteilt werden.
Eng verknüpft mit der Migrationsthematik ist ja die Frage nach der Herausforderung durch die islamische Welt. Haben wir da die richtigen Antworten?
Ich würde mir angesichts des islamistischen Terrors wünschen, dass die protestierenden Stimmen friedliebender Muslime deutlicher zu hören sind. Das passiert leider nur sehr punktuell. Daran anschließend frage ich mich, wie weit der Dialog gehen kann. Wenn wir zum Beispiel als Bischöfe mit islamischen Theologen das offene Gespräch suchen, stoßen wir bisweilen an Grenzen.
Warum gibt es diese Probleme gerade im Zusammenhang mit dem Islam?
Ich glaube, das hat letztlich theologische Gründe und ist zugleich sehr sensibel. Ein Beispiel, das zur Advent- und Weihnachtszeit passt: Wir kennen die Geschichte der Verkündigung der Geburt Christi durch den Erzengel Gabriel an Maria. Das ist ein dialogisches Geschehen, ein Sprechen in Freiheit miteinander – Gott nimmt den Menschen als Dialogpartner ernst. Aus diesem Geschehen heraus ereignet sich die Offenbarung Gottes in der Geburt Jesu. Maria gebiert das Wort Gottes auf Basis einer freien Zustimmung. Dieses Gottesbild ist letztlich auch die Grundlage für Emanzipationsbewegungen aller Art. Wie sieht es mit der Offenbarung im Islam aus? Die Tradition erzählt: Der Engel Gabriel kommt zu Mohammed, und während der Engel Mohammed den Koran – als Wort Gottes das Pendant zu Jesus – diktiert, ist Mohammed Analphabet und gelähmt. Die Symbolik sagt: Das Wort Gottes soll rein überliefert, nicht durch nur Menschliches korrumpiert werden. Mohammed trägt nichts zu dem Ereignis bei. Der Engel als Repräsentant Gottes setzt sich durch. Vor dem Hintergrund eines hier erzählten und verdichteten Gott-Mensch-Verhältnisses frage ich mich, ob und wie Dialog der Religionen grundsätzlich gehen kann – auch wenn ich glaube, dass Dialog der einzige Weg ist. Ich glaube ebenso, dass sich das jeweilige Gottesbild zum Beispiel auch auf das Verhältnis der Geschlechter auswirkt und auf die Frage nach dem Gewaltpotential unserer jeweiligen Glaubensweisen und Glaubensinhalte. „Gott setzt sich durch“ als dominante Glaubensfigur ist ja ein anderes Narrativ als: „Ein Kind ist uns geboren“. Freilich ist das nun sehr plakativ, denn „Gott setzt sich durch“ haben wir ja an anderer Stelle auch in unserer Bibel. Aber genau über solche Fragen wäre zu reden.
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