Kamala Harris: Joe Bidens Göttin der Erneuerung
Im Hinduismus ist Kali die Göttin der Zerstörung: Drei rote Augen. Herausgestreckte Zunge. Vier Arme, einer hält einen abgeschlagenen Kopf. Eine Halskette mit 50 menschlichen Schädeln. Aber Kali beschützt auch die Unschuldigen und steht für Erneuerung. Eine etwas andere Mutterfigur.
Dass Kamala Harris bei der Bewerbung für einen Justiz-Posten in ihrer kalifornischen Heimat in einem Interview ihre Bewunderung für die mythologische Figur zum Ausdruck brachte, unterlegt mit ihrem unnachahmlichen Lächeln, kommt in Dan Morains unbedingt lesenswerter Biografie (Heyne-Verlag, ab 25. Januar) über die Frau, die am Mittwoch Geschichte schreiben und Zigtausende Frauen und Mädchen inspirieren wird, nicht zufällig vor.
Kali-Keule
Harris hat als Staatsanwältin, Bezirksstaatsanwältin, Ministerin und zuletzt Senatorin in den über 25 Jahren, die der Reporter sie beobachtet, so manches Mal die Kali-Keule herausgeholt. Meist gegen männliche Widersacher. Sie blieb dabei trotzdem charmant und nahbar. Gute Voraussetzungen, um als erste schwarze Vize-Präsidentin ins Weiße Haus zu kommen.
Morains Urteil zwischen den Zeilen flößt Respekt ein. Präsident Joe Biden hat sich eine ebenso emotional warme wie eiskalt machtorientierte Frau an die Seite geholt, die es mit Tatkraft, Können, Begeisterungsfähigkeit, strategischem Denken, Fleiß und einem Quäntchen Glück aus der "versumpften, hinterhältigen politischen Kultur San Franciscos" nach oben geschafft hat.
So weit nach oben, dass sie in vier Jahren, falls der dann 82-jährige Biden nicht für eine zweite Amtszeit antritt, die erste schwarze US-Präsidentin werden könnte. Auch dank blendender Verbindungen.
Barack und Beau
Bereits 2006 war Harris die prominenteste Politikerin an der Westküste, die einen gewissen Barack Obama unterstützte. Der Sohn einer weißen Mutter aus Kansas und eines schwarzen Vaters aus Kenia und die Tochter einer tamilischen Krebsforscherin und eines Wirtschaftsprofessors aus der Karibik verspürten eine Wesensverwandtschaft.
Später hob Obama Harris mehrfach auf den Sockel, was Bekanntheitsgrad und Beliebtheitswerte enorm steigerte. Auch der enge Kontakt zu Beau Biden zahlte massiv auf ihr Konto ein. Der 2015 an einem Gehirntumor gestorbene Sohn Joe Bidens war in Delaware Justizminister, als Harris den Posten in Kalifornien hatte.
Man stimmte sich ab, lernte einander kennen und schätzen. Biden Jr., erzählte Biden Senior später voller Stolz, war beeindruckt von Harris’ kühnem Verhandlungsgeschick. Die Herrin über 5.000 Angestellte und ein Jahresbudget von 730 Millionen Dollar hatte den Banken nach der Weltfinanzkrise von 2008 rund 20 Milliarden Dollar zur Linderung der Immobilienkrise abgetrotzt. Geben wollten die Kreditinstitute nicht mal ein Viertel.
Als „Veep“ (Vizepräsidentin) kann Joe Biden eine harte Verhandlerin mit Allround-Erfahrung gut gebrauchen. Zumal sie in ihrer Nebenfunktion als Präsidentin des Senats künftig bei der 50:50-Stimmenverteilung zwischen Demokraten und Republikanern das Zünglein an der Waage spielen wird.
Demos und ein Blind Date
Man lernt bei der Lektüre, dass Harris’ 2009 an Krebs gestorbene, alleinerziehende Mutter, Dr. Shyamala Gopalan, ihr einen Sinnspruch mitgab: "In vielen Dingen bist du vielleicht die Erste, aber sorge dafür, dass du nie die Letzte bist."
Man lernt, dass sie im studentenbewegten Berkeley der 60er-Jahre im Kinderwagen zu Demos kutschiert wurde und einmal auf die Frage, warum sie quengele und was sie wolle, geantwortet haben soll: "Frei-heit!".
Man lernt, dass sie ihren bei einem „Blind Date“ getroffenen Mann Doug Emhoff erst von einem Vertrauten testen ließ. Nach dem Motto: "Man kann den Charakter eines Menschen an seinem Golfspiel erkennen."
Und man lernt, dass sie seit ihrer vor vielen Jahren verwelkten Langzeit-Affäre mit dem kalifornischen Demokraten Willie Brown abgehärtet ist, wenn es fies unter die Gürtellinie geht. Auch darum reagierte Harris cool, als Donald Trump sie im Wahlkampf ein "Monster" nannte.
Von Männern unterschätzt
Sie ist groß geworden mit Männern, die sie unterschätzten. Im Stahlbad der latent mafiösen Politik im Golden State lernte sie damit taktisch umzugehen: "Nimmt ein Politiker einen klaren Standpunkt ein, so riskiert er immer auch, Wähler vor den Kopf zu stoßen."
Als Staatsanwältin hat sie Präzisionsinstrumente geschärft, die wehtun. Legendär die Szene im Senatsanhörungsverfahren für den umstrittenen Supreme-Court-Richter Brett Kavanaugh. Als der Erzkonservative mehrfach Fragen zum Recht auf Abtreibung auswich, nagelte Harris ihn fest: "Fällt Ihnen irgendein Gesetz ein, das dem Staat die Macht gibt, Entscheidungen über den männlichen Körper zu fällen? Kavanaugh bekam rote Flecken am Hals: "Mir ist nichts bekannt – ich bin nicht ... –, mir fällt im Augenblick keines ein."
Als Vizepräsidentin gebietet ihr Rollenzuschnitt Bescheidenheit, Demut, Loyalität und Respekt der Nr. 1 gegenüber. Und Verzicht, sich in den Vordergrund zu drängen. Kann sie sich in der zweiten Reihe arrangieren? Ja, sagt Dan Morain: "Etwas bleibt von ihr immer in Erinnerung. So läuft das bei Kamala Harris."
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