Platz eins und Zugewinn
Mit ihrem klaren Anti-Kreml-Kurs und dem Versprechen nach mehr Verteidigung sowie Unterstützung für die Ukraine holte sie unter den rund 965.000 Wahlberechtigten 31 Prozent und damit 37 der 101 Parlamentssitze – drei mehr als im Jahr 2019. In ihrem Wahlkreis stellte Kallas mit 31.000 Stimmen sogar einen Rekord auf, seit der Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion 1991 hat noch nie jemand mehr bekommen.
Innerhalb der Rechts-außen-Partei EKRE war die Unzufriedenheit dafür umso größer. Vorsitzender Mart Helme – bekannt für seine sexistischen wie rassistischen Äußerungen – galt zwar als größter Konkurrent für Kallas, die Partei büßte jedoch einige Parlamentssitze ein und kam auf gerade mal 17 Prozent – nur knapp ein Prozent vor der mitte-linken Zentrumspartei.
Helme reagierte auf das ernüchternde Ergebnis mit Betrugsvorwürfen. „Meiner Partei wurde der Wahlsieg gestohlen“, beschwerte er sich. Während der Auszählung der Papierwahlzettel habe EKRE vorne gelegen, durch die elektronischen Stimmen habe sich das Ergebnis jedoch gedreht. Das sieht er als Beweis dafür, dass das Online-Voting seiner Partei unfairerweise geschadet und Kallas geholfen hat.
Mehrheit wählte digital
Mehr als ein Drittel aller Wähler machten diesmal vom sogenannten „E-Voting“, der vorzeitigen Stimmabgabe über das Internet, Gebrauch. Estland war vor einigen Jahren das erste Land in Europa, das diese Option eingeführt hat. Insgesamt wurde mehr als die Hälfte aller Stimmen digital abgegeben – so viele wie noch nie.
Ob Kaja Kallas die nächste Amtszeit über, wie bisher, in einer Dreierkoalition mit Sozialdemokraten (9 Sitze) und Konservativen (8 Sitze) regieren wird, ist noch nicht klar. Beide Partner büßten diesmal Mandate ein. Experten halten auch eine Regierungsbeteiligung des größten Stimmengewinners für denkbar: Die liberale Partei Estland 2000 zog mit 14 Sitzen ins Parlament ein.
Bleibt Kallas Regierungschefin – und alles sieht danach aus – ,wird wohl vor allem ihre Innenpolitik künftig genauer beobachtet werden. Die schien nämlich neben der Außenpolitik zuletzt in den Hintergrund geraten. Dabei wies Estland 2022 mit 21 Prozent eine der höchsten EU-Inflationsraten auf. Das Sozialsystem gilt über 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetherrschaft noch immer als ausbaufähig.
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