Dabei war Kaja Kallas eine Spätzünderin, ging erst mit 33 Jahren in die Politik, ist erst seit zwei Jahren im Amt – als erste Frau. Einen gewissen Startvorteil hatte sie ihrem Vater zu verdanken, Siim Kallas, eine der zentralen Figuren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung und Premierminister 2002 und 2003.
Doch erst der Krieg hat die Regierungschefin des 1,3-Millionen-Einwohner-Landes zu einer weltweit beachteten Politikerin gemacht: Bereits im Jänner 2022 forderte die 45-Jährige Unterstützung für die Ukraine, schickte Waffen – gemessen am BIP mittlerweile mehr als jede andere Nation. Sie gehört zu jenen Regierungschefs, die am lautesten nach einer NATO- und EU-Mitgliedschaft der Ukraine rufen. 60.000 ukrainische Flüchtlinge hat das Land aufgenommen – pro Kopf mehr als jedes andere EU-Land.
Auf Linie mit der Historie
Mit ihrer Außenpolitik spricht Kallas in Estland weit verbreitete, der Historie des Landes geschuldete, anti-russische Sentiments an: Kaum jemand hat kein Familienmitglied, das zu Zeiten der Sowjetunion nicht nach Sibirien deportiert worden ist. Kallas damals sechsjährige Mutter, die mit ihrer Mutter und Großmutter eingesperrt wurde, überlebte nur mit Glück.
So sehr Kallas außenpolitisch glänzt: Ihre innenpolitische Bilanz gilt als durchwachsen. Das Selbstbild des aufstrebenden, durchdigitalisierten Landes hat sich langsam abgenutzt, das Sozialsystem hat Lücken.
Rechts profitiert
Die Inflation zählt zu den höchsten in der Union (2022: 21 Prozent). Eine linke Alternative zur liberalen Reformpartei Kallas’ gibt es nicht. Das treibt Unzufriedene in die Arme der rechten EKRE. Diese belegte in den letzten Umfragen von Politico mit 17 Prozent den zweiten Platz hinter Kallas Liberalen (28 Prozent), ist bekannt für extrem sexistische, rassistische und den Nationalsozialismus relativierende Aussagen. Im Wahlkampf schlug sie zart Russland-freundliche Töne an, stellte sich gegen Waffenlieferungen.
Der populistischen, als Mitte-links charakterisierten Zentrumspartei (16 Prozent in den Umfragen), die den stärksten Rückhalt in der großen russischsprachigen, zur Hälfte sehr kritisch gegenüber Russland stehenden Minderheit (25 Prozent) genießt, dürfte bei der Regierungsbildung daher eine wichtige Rolle zukommen. Sie setzt auf Investitionen in die Infrastruktur und erschwingliches Wohnen. Zudem verspricht sie mit Blick auf ihre russischsprachigen Wählerinnen und Wähler eine zweisprachige Schulausbildung, während andere Parteien auf Schulunterricht ausschließlich in estnischer Sprache setzen.
E-Voting gestartet
Bei den Wahlen von 2019 hatte die Reformpartei zwar gewonnen, konnte aber keine Regierung bilden. Stattdessen tat sich die Zentrumspartei mit EKRE und Isaama ("Vaterland") zusammen, diese Regierung brach jedoch 2021 auseinander. Danach gelang es Kallas, ein Bündnis ohne EKRE zustande zu bringen.
In Estland kann die Stimme bei einer Wahl seit 18 Jahren übrigens digital abgegeben werden. Das E-Voting startete bereits am Montag. Seit Wochenbeginn haben knapp 26 Prozent der rund 965.000 Wahlberechtigten ihre Stimme bereits abgegeben, rund zwei Drittel davon online.
2019 hatten insgesamt 61 Prozent der Wahlberechtigten vor dem eigentlichen Wahltag abgestimmt, zwei Drittel davon online, der Rest in Form von Vorausstimmen auf Papier.
Ihre Wiederwahl könnte übrigens nur das zweite politische Großereignis Kallas’ heuer sein: Kallas wird als Nachfolgerin von NATO-Chef Stoltenberg gehandelt, seine Amtszeit endet im September. Ob der Schulterschluss mit Stoltenberg am Unabhängigkeitstag damit etwas zu tun hatte, ist aber nicht bekannt.
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