Estland: Musterschüler mit Fehlern
Timur trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Abbild von Franz Kafka. „Ich habe es aus Protest gegen Putin gekauft“, meint er stolz.
Seit einem Jahr lebt der 33-jährige Russe mit seiner Frau in Estland. „Putin verbreitet Fake News und lässt die Bevölkerung im Unklaren. Die EU muss näher zusammenrücken und etwas dagegen tun“, wünscht sich Timur.
Seinen Nachnamen will er in der Zeitung nicht stehen sehen. Das sei zu gefährlich: Ihre Aufenthaltsbewilligung läuft bald ab, und Timur und Elena müssen zurück nach Russland. Und dort wird Kritik am Präsidenten nicht gern gesehen.
Vorzeigeschüler
Der Ex-Sowjetstaat gilt seit seinem Beitritt vor 15 Jahren als Musterschüler der Europäischen Union: Kein anderes EU-Mitgliedsland hat eine niedrigere Staatsverschuldung, die Arbeitslosenquote ist niedriger als der EU-Durchschnittswert. Estland erfüllt als eines der wenigen europäischen NATO-Mitglieder das Ziel bei den Verteidigungsausgaben. Und kein anderes EU-Mitgliedsland ist digitalisierter und vernetzter.
„Seit seiner Unabhängigkeit 1991 hielt sich Estland bewusst an Digitalisierung, um sich wirtschaftlich schneller etablieren zu können“, berichtet die ehemalige österreichische Botschafterin Doris Danler. „Man wollte immer seinen ,großen Bruder’ Finnland übertrumpfen.“
Digitalisierungsvorreiter
So rühmt man sich etwa mit kostenfreiem WLAN im ganzen Land. Digital gewählt werden kann seit 2005, bei der Parlamentswahl im Frühjahr gaben 44 Prozent aller Wähler ihre Stimme elektronisch ab. 2002 wurde verpflichtend die digitale Identitätskarte eingeführt. Mit dieser elfstelligen Identitätsnummer machen die Esten ihre Steuererklärung, lassen sich Medikamente verschreiben, bestellen ihren Einkauf im Supermarkt und benennen ihre Kinder.
Was den Datenschutz anbelangt, fürchten sich die Esten nicht: „Jeder kann überprüfen, wer wann auf seine Akten zugegriffen hat“, erklärt Tobias Koch vom e-Estonia Showroom, wo sich jährlich über 530 internationale Delegationen zu Estlands e-Lösungen informieren.
Auch das eigene Unternehmen lässt sich mit nur wenigen Klicks gründen: Durch die e-Residency ist das auch für alle Nicht-Esten möglich. Das Land mit weniger Einwohnern als Niederösterreich verkauft sich gerne als „Sillicon Valley Europas“.
Auf vier „unicorns“ („Einhörner“, Anm.), also Unternehmen, die mehr als eine Milliarde Euro wert sind und in Estland gegründet wurden, ist man besonders stolz: Skype, Playtech, den Fahrdienstvermittler Bolt und den Geldtransfer-Service TransferWise. Letzterer beschäftigt allein in Tallinn mehr als 700 Mitarbeiter aus 70 Nationen.
Die IT-Branche gilt als die bestbezahlte in Estland. Der Konkurrenzkampf um ausgebildete Mitarbeiter am Arbeitsmarkt ist hoch. „Die Start-Up-Landschaft Estlands ist klein, man kennt sich. Das erleichtert die Unternehmensgründung“, erklärt Alvar Lumberg von TransferWise. Doch wer wachsen will, zieht ins Ausland, vor allem nach Großbritannien. Auch TransferWise hat seinen Sitz in London.
Dem Brexit sieht Estland nicht zuletzt deswegen mit weinenden Augen entgegen. „Estland muss sich jetzt neue Handelspartner suchen. Österreich hat da gar keine so schlechten Karten“, meint Dandler.
Estlands Ruf als Musterschüler der EU kommt also nicht von ungefähr. Andere Bereiche hat das neoliberale System jedoch vernachlässigt.
Angst vor Russland
Etwa die Integration: Knapp ein Drittel der estnischen Bevölkerung sind Russen. Viele von ihnen haben keinen estnischen Pass, sprechen die Sprache nicht, empfangen russisches Fernsehen und leben in ihren eigenen Kommunen. Xenophobie ist weit verbreitet, nicht zuletzt aufgrund der Angst, Traditionen und die Souveränität zu verlieren. Seit dem Frühjahr sitzt die rechtspopulistische Partei EKRE erstmals in der Regierung, ihr werden Verbindungen zu Neo-Nazis nachgesagt.
Das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt in Estland beträgt 1.119 Euro, die staatlichen Pensionen liegen bei 400 Euro. Und das bei einem westlichen Preisniveau. Ein ähnlich stark ausgebautes soziales Sicherheitsnetz wie in Österreich gibt es nicht. Gewerkschaften haben kaum Verhandlungsmacht.
Die Jugend am Wort
Das bekritteln auch Triin und Aleksandra. Die jungen Frauen haben sich beim Arvamusfestival in Paide eingefunden, genauso wie Timur und Elena.
Was sich Estlands Jugend für die Zukunft wünscht
„Is what we want, what we get“, fragen sich dort Tausende Leute jedes Jahr, mehr als zwei Drittel davon zwischen 20 und 39 Jahren.
Die Conclusio nach zwei Tagen Diskussion bei dem Alpbach-ähnlichen Treffen zu den Themen Demokratie und Meinung: Etwas muss sich ändern. In Estland und der EU. Timurs T-Shirt von Franz Kafka ist sein erster Schritt dazu.
Dieser Beitrag ist im Rahmen von „eurotours 2019" entstanden, einem Projekt des Bundeskanzleramtes, finanziert aus Bundesmitteln.
Kommentare