Julija Nawalnaja nimmt den Kampf gegen den Kreml auf

„Kellner, bringen Sie uns Wodka“, rief Julija Nawalnaja während des Fluges von Berlin nach Moskau, „wir gehen nach Hause.“ Es sollte das letzte Mal sein, im Jänner vor drei Jahren, dass die Frau von Kremlkritiker Alexej Nawalny neben ihrem Mann sitzen konnte.
Kaum in Moskau angekommen, wurde der wichtigste Oppositionelle Russlands sofort verhaftet, verurteilt, eingesperrt, von einem Straflager in ein noch härteres in Sibirien gesteckt – und dort so lange unter widrigsten Umständen gefangen gehalten, bis am Freitag die Nachricht seines Todes kam.
Sie habe wohl gewusst, dass Alexejs Rückkehr nach Russland, kaum vom Giftanschlag genesen, im Gefängnis enden würde, sagte die 47-Jährige später.
Aber Angst zu zeigen, habe sie sich nicht gestattet, schilderte die zweifache Mutter dem Harper’s Bazaar: „Mein Mantra: Gib nicht auf. Keine Schwäche zeigen, sich nicht selbst bemitleiden und das tun, was getan werden muss.“
Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen – nach dem ungeklärten Tod ihres Mannes:
„Ich werde die Arbeit von Alexej Nawalny fortsetzen“, kündigte sie am Montag in einem neunminütigen Youtube-Video an.
Die wasserstoffblonden Haare streng nach hinten gekämmt, dezent geschminkt, blass aber entschlossen verspricht Julija Nawalnaja den „Kampf gegen Krieg und Korruption“ fortzuführen.
„Indem Putin Alexej getötet hat, hat er auch die Hälfte meines Herzens und meiner Seele getötet.“ Aber sie habe auch noch die andere Hälfte, fährt sie fort, „und die sagt mir, dass ich kein Recht habe, aufzugeben.“
Ausnahmezustand
Über 15 Jahre lang hat Julija Nawalnaja an der Seite Alexejs im Ausnahmezustand gelebt. Immer wieder wurde der Kremlkritiker eingesperrt, den Giftanschlag des Putin-Regimes überlebte er 2020 nur knapp. Auch sie selbst wurde immer wieder kurz verhaftet, hielt sich aber mit politischen Aktivitäten zurück.
Stets an seiner Seite, beriet sie ihn, sah sich aber als die zentrale Kraft der Familie im Hintergrund. Eine eigenständige Rolle im Widerstand gegen die Kremlherrschaft suchte sie nie.

Die Familie Nawalny- einander sehr zugetan, Alexej, Ehefrau Julija, Tochter Darija (23) und Sohn Sachar (15)
Erst nach der Inhaftierung des Kremlkritikers vor drei Jahren gab sie Interviews, hielt Reden und kämpfte gemeinsam mit ihrer in den USA studierenden Tochter Darija um die Freilassung ihres Mannes.
Tieftraurig und doch souverän selbstbeherrscht hatte Julija Nawalnaja die Münchner Sicherheitskonferenz vom Tod ihres Mannes informiert.
Und bereits am Montag nahm die Witwe auch am Treffen der EU-Außenminister in Brüssel teil.
Das weckte zumindest außerhalb Russlands Hoffnungen, dass die Witwe das politische Werk Alexej Nawalnys aufgreifen und fortsetzen könnte. Sie habe den Mut, die Stärke und die Entschlossenheit dafür, feuerten sie Zurufe aus den Sozialen Medien an.
Und schon tauchte die Analogie zur Oppositionsführerin Svetlana Tichanowskaja auf: Die ehemalige Lehrerin wuchs zur Galionsfigur des belarussischen Widerstandes, seit ihr Mann von Diktator Lukaschenko weggesperrt wurde.
Nach Belarus kann Tichanowskaja nicht zurück, und auch Julija Nawalnaja bleibt der Weg zurück nach Russland verwehrt. So wie schon bisher die meisten Anwälte und Aktivisten rund um Nawalny würde wohl auch die Witwe Nawalnaja sofort verhaftet werden.
Denn Verständnis etwa dafür, beim Begräbnis ihres Mannes dabei sein zu können, oder Milde oder Menschlichkeit sind im System Putin nicht vorgesehen.
Eine Opposition gibt es seit dem Tod Alexej Nawalnys nicht mehr, jeder innerrussische Widerstand ist zerschlagen.

Julija Nawalnaja bei der Münchner Sicherheitskonferenz
Auch seine Witwe werde dies nicht umkehren können, befürchtet der Russlandkenner und US-Historiker Timothy Snyder: „Niemand wird in die Fußstapfen von Nawalny treten können. Das System muss zerbrechen, bevor es einen neuen Nawalny gibt.
Und es wird nur dann zerbrechen, wenn Russland den Krieg verliert“, sagte Snyder bei einer Veranstaltung in Wien. „Nawalny repräsentierte das Russland, das hätte sein können.“
Wie weit diese Vision eines anderen Russland entfernt bleibt, zeigt der Umgang mit Nawalnys Leichnam: Noch immer ist unklar, wo er sich befindet. Oder woran und wann genau der wichtigste Oppositionelle Russlands tatsächlich gestorben ist.
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