4 Gründe, warum uns Nawalnys Tod so betroffen macht
Der Regimegegner ging sehenden Auges in den Showdown mit dem Kreml-Chef; und der sendet mit Nawalnys Tod ganz bewusst Signale. Eine Analyse in vier Kapiteln.
Ja, es gibt Zufälle im Weltgeschehen und in der Politik. Aber Wladimir Putin ist keiner, der irgendetwas dem Zufall überlässt. Einer wie der Kreml-Herrscher hätte sich sonst nicht ein Vierteljahrhundert an der Spitze des großen russischen Reiches gehalten.
Daher ist es auch kein Zufall, dass Alexej Nawalny, sein größter Widersacher, am Tag der Münchner Sicherheitskonferenz im sibirischen Straflager ums Leben kam, in dem er noch 18 Jahre zu verbringen gehabt hätte. Denn Wladimir Putin hat neben der akribischen Planung seines politischen Lebens und seiner Macht auch einen teuflischen Sinn für Symbolik.
1. Wer genau hinsah, konnte die Kriegserklärung erkennen
Vor 17 Jahren hielt Putin genau dort, in München, als erster russischer Präsident seine berühmt gewordene Wutrede. Er donnerte den verdutzten Staats- und Regierungschefs, Ministern, Diplomaten und Fachleuten mit grimmiger Miene entgegen, dass diese Konferenz ihm die Möglichkeit gebe, „Ihnen zu sagen, was ich wirklich über die Sicherheit auf der Welt denke“.
Hier spricht Nawalny-Witwe Julia erstmals über den Tod ihres Mannes:
Die NATO-Osterweiterung sei eine Bedrohung Russlands, die Grenzen seien „in fast allen Bereichen überschritten“ worden; es regiere eine „monopolare Weltherrschaft“ der USA, obwohl Russland eine mehr als tausendjährige Geschichte“ habe, und es gebe eine „ungebremste Anwendung der Hypergewalt“ (die USA waren damals mit Großbritannien im Irak im Krieg); kurzum: Die Welt stehe vor einem „Abgrund von Konflikten“.
Aber dies sei ja „nur eine Konferenz“, fügte der Kreml-Herrscher zum Ende seiner Brandrede sarkastisch an – die, wie später wohl zurecht analysiert wurde, nicht weniger als die Erklärung eines neuen Kalten Krieges an den Westen war.
Genau am selben Platz, dem „Bayerischen Hof“ in München, stand 17 Jahre später die Ehefrau des Regimegegners Alexei Nawalny auf der Rednerliste. Julija Nawalny hielt ein Plädoyer gegen Putin und für ihren im sibirischen Straflager gefangen gehaltenen Mann zu halten. Um darauf hinzuweisen, dass solche Straflager darauf ausgerichtet sind, ihre Insassen psychisch und physisch zu brechen. Trotz und wegen der Botschaften, die Nawalny immer wieder aus seiner Gefangenschaft heraus an die Welt und an jene Menschen in der russischen Gesellschaft, die sie hören konnten, sandte. Und da soll der Tod Nawalnys am vergangenen Freitag Zufall gewesen sein??
Es ist diese Koinzidenz, die erklärt, warum die Öffentlichkeit im Westen am tragischen Ende des Regimekritikers besonders Anteil nimmt, obwohl er auch eine umstrittene Person war, die sich etwa auch eine Zeit lang rechtsextremen Gruppen zur Verfügung stellte.
2. Nawalny ging sehenden Auges auf den Showdown zu
Es gibt einen weiteren Grund, warum Nawalny mehr als andere Regimekritiker, die Putin aus dem Weg geräumt hat, „interessiert“: Er ist sehenden Auges in den Showdown mit Putin gegangen, den er von Beginn weg nur verlieren konnte.
2013 noch im Rennen um das Moskauer Bürgermeisteramt, ließt ihn Putin 2018 bei der Präsidentschaftswahl ausschließen und 2020 seine FSB-Schergen zum Giftanschlag gegen Nawalny ausrücken. Die Vorwürfe gegen die Nowitschok-Attentäter sind wohl dokumentiert, Nawalny überlebte dank Ärzten in Berlin, wohin er fliehen konnte. Legendär war ein Video, indem er unter falscher Identität die privat ausgeforschten Attentäter anruft und ihnen Geständnisse entlockt.
Navalny kehrte, against all odds, als Genesener nach Russland zurück. Wissend, dass er wohl verhaftet würde. Vielleicht ahnend, dass ihm eine lange Gefängniszeit drohen würde. Und vielleicht darauf hoffend, dass Putin nicht zum Äußersten greifen würde, noch dazu, wo Nawalny dank seiner Frau und seiner Anwälte einen guten Draht nach draußen hatte, wohl der prominenteste Putin-Gegner war, den sich der Kreml-Chef im Laufe der Jahrzehnte gezüchtet hatte.
Aber die Rechnung ging nicht auf. Wohl gelangten die Botschaften Nawalnys an die Öffentlichkeit, aber in zahllosen Scheinverfahren und Scheinanklagen wurde der Regimekritiker bis ins sibirische Straflager nahe der Arktis getrieben. Wo er beim Hofspaziergang zusammenbrach und starb.
Und das ist die dritte Komponente des großen Interesses und der Anteilnahme im Fall Nawalny: die grenzenlose Kaltblütigkeit Wladimir Putins, die nicht einmal vor einem wie Alexej Nawalny halt macht. Zahlreiche Putin-Gegner haben vorzeitig das Zeitliche gesegnet, von Boris Beresowski bis Alexander Litvinenko. Der eine wird auf der Moskwa-Brücke im Schaten des Kreml regelrecht hingerichtet (Boris Nemzow), der andere wird nach seinem kläglichen Putschversuch gegen Putin mit seinem Flugzeug vom Himmel geholt (Jewgeni Prigoschin). Und Alexei Nawalny stirbt im Straflager, vor den Augen der Welt.
4. Der Despot wird nicht halt machen
An den Händen Putins klebt Blut: das Zehntausender Ukrainer (die Tschetschenen und Georgier davor sind fast schon in Vergessenheit geraten), ein paar Regimegegner mehr fallen da nicht ins Gewicht. Oder im Gegenteil: Mit ihrem Tod sendet der russische Herrscher einen Monat vor den Präsidentenwahlen in Russland und zum zweiten Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine Signale nach innen – seht, wie Opposition gegen mich endet; und nach außen – ich mache mein Ding, da kann die Welt Kopf stehen.
Letzteres ist eine Botschaft, die die Welt wie die seinerzeitige Brandrede in München in weitere Unruhe versetzen muss. Denn dass Putin in seiner Revanche gegen den Westen mit seinem Abenteuer Ukraine fertig ist, ist nicht anzunehmen. Das heißt nicht, dass er die baltischen Staaten oder Polen überfallen wird; aber den Westen destabilisieren und demütigen, das steht auf seiner Agenda mit Sicherheit ganz oben.
Spätestens die Gnadenlosigkeit, mit der Nawalny in den Tod geschickt wurde, hat der Welt vielleicht die Augen geöffnet.