Terrorforscher: "Die Taliban sind die logischen Partner der USA"

Der deutsche Islamwissenschaftler Behnam Said, dessen Familie aus Afghanistan stammt, beschäftigt sich seit Langem beruflich mit dem Thema Dschihadismus, insbesondere am Hindukusch. Der KURIER erreichte ihn am Tag nach dem Doppelanschlag in Kabul, bei dem am Donnerstag mindestens 90 Menschen getötet worden sind.
Der IS-Ableger Provinz Khorasan hatte sich noch am selben Tag zu dem Anschlag am Flughafen bekannt. Für Geheimdienste und Experten war das keine Überraschung. Der KURIER fragte bei Behnam Said nach, wie sich der Anschlag erklären lässt.
KURIER: Es wirkt absurd. Die radikalislamischen Taliban übernehmen die Macht im Land – und die radikalislamische Terrormiliz "Islamischer Staat" verübt einen Anschlag. Was steckt dahinter?
Behnam Said: Ich denke, man kann sich das aus der Logik der innerdschihadistischen Konkurrenz der letzten Jahre und Jahrzehnte erklären. Und aus der Konkurrenz der beiden Hauptströmungen – El Kaida/Taliban auf der einen Seite, Islamischer Staat ab 2013/2014 auf der anderen Seite. In diesem Rahmen spielte sich auch die Gründung des Islamischen Staats Khorasan 2015 ab. Das waren "abtrünnige" oder "unzufriedene" Gefolgsleute der Taliban aus Pakistan.
Damals herrschte ein starkes Momentum in dem Projekt "Islamischer Staat" von Abu Bakr al-Baghdadi. Der war eine Attraktion der Macht für viele Dschihadisten – inklusive dem Traum vom Kalifat, am ehesten unter dem Banner des IS. Unter dem Weg der Taliban und von El Kaida sahen sie eher einen Irrweg. Osama Bin Laden war zu dem Zeitpunkt schon tot – es herrschte ein Kampf um sein Erbe. Und beide Strömungen beriefen sich auf Bin Laden. Es entstand eine brandgefährliche Konkurrenz zwischen den beiden, die eine Eskalation der Gewalt mit sich zog. Sobald eine dschihadistische Organisation Erfolg hat, wird sie herausgefordert von der anderen. Immerhin folgen beide dem "großen Versprechen Gottes", von dem sie behaupten, er habe ihnen den Sieg in Aussicht gestellt.
Also galt der Anschlag zu einem großen Teil den innerdschihadistischen Konkurrenten, den Taliban? War die Tat auch eine Message an den so genannten Westen?
Mittlerweile sieht der IS die Taliban und die USA als gemeinsamen Feind, seit die beiden miteinander reden. Für die Taliban wiederum waren die Opfer unter den US-Soldaten ein Grund zu behaupten, dass nicht sie an dem Blutbad schuld waren, weil sie nicht für Sicherheit sorgen konnten – sondern die Präsenz ausländischer Truppen. Nur wenn diese abzögen, herrsche Ruhe. Aber die Ordnungsmacht Taliban wurde vorgeführt vom IS. Das versucht sie jetzt mit Propagandatricks zu vertuschen, um vom eigenen Versagen abzulenken.

Was unterscheidet ISIS-K und Taliban? Welche unterschiedlichen Ziele verfolgen sie?
Die Taliban wollen erst einmal einen stabilen Staat aufbauen – nach ihren Vorstellungen eines islamischen Staates. Dazu sind sie bereit ehemalige politische Gegner einzubinden. Sie sind auch bereit mit Staaten wie Katar zu verhandeln, aber auch mit den USA. Dieser – vielleicht nur nach außen getragene – Pragmatismus fehlt beim Islamischen Staat vollkommen. Der IS-K ist eine reine destruktive Macht ohne eine dahinter liegende Verankerung in der afghanischen Gesellschaft – welche die Taliban durchaus haben, vor allem im Süden und Osten des Landes. Der IS ist eher ein Produkt von außen, gegründet von pakistanischen Taliban, die ohnehin schon als äußerst rücksichtslos und radikal gelten. Ihm geht es um reine (asymetrische) Kriegsführung, um Machtdemonstration und um Einschüchterung. Ohne eine Vision für die afghanische Gesellschaft. Die Taliban haben diese (die ich in keinster Weise legitimieren möchte).
Was bedeutet das nun für die neue Taliban-Regierung in Afghanistan?
Die innere Sicherheit ist jetzt, neben der Herstellung von Prosperität, dem wirtschaftlichen Aufbau, den außenpolitischen Beziehungen (Stichwort Anerkennung), tatsächlich die große Herausforderung. Gestellt wird die Herausforderung aktuell durch den IS. Seiner Herr zu werden ist die große Probe für die Taliban in den nächsten Monaten.
Müssen sie dafür mit den USA, den internationalen Truppen zusammenarbeiten?
Ja. Während der US-Präsenz haben Taliban und die USA bereits stellenweise kooperiert. Ich kann mir vorstellen, dass das in verdeckter Form weitergeführt wird. Beide haben kein Interesse, die mögliche Kooperation offenzulegen. De facto sehen die USA eine große Bedrohung für ihre Interessen. Denn der IS bedroht auch den US-Partner Pakistan. Die großen Akteure der Region (lokale und internationale) werden alles daran setzen, den IS einzudämmen. Die einzige Ordnungsmacht in Afghanistan sind nun mal die Taliban. Sie sind daher der logische Kooperationspartner.
Sind die Taliban zum geringeren Übel geworden?
Momentan, bedauerlicherweise, ja.
Man rechnet mit einer monatelangen, vielleicht jahrelangen Terrorserie in Afghanistan. Könnte sich auch die Terrorgefahr in Europa wieder erhöhen?
Die Spirale der Gewalt in Afghanistan und Pakistan wird sich auf andere Länder auswirken. Die Konkurrenz von Taliban und IS wird auch für andere Länder von Bedeutung sein. Einzelne Personen oder Netzwerke könnten sich auch in Europa berufen fühlen, Anschläge zu verüben. Die Sicherheitsbehörden werden die Szene bestimmt mit erhöhter Wachsamkeit im Blick behalten.
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