Noch am selben Tag beantragten sie ein Visum, Wochen später kam das Okay. Nur die Schwiegermutter hatte das Paar eingeweiht und gebeten, alle Zeugnisse aus der Wohnung zu holen. Die Friedrichs fuhren offiziell nach Ungarn zu einer Hochzeit – mit Geschenk und Glückwunschkarte.
Als sie nachts bei Regen an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei kontrolliert wurden, sollten sie die Innenverkleidung des Trabis abnehmen. „Wollen Sie zwei weinende Kinder sehen?“, fragte ihr Mann den Grenzer. Der stempelte schließlich die Papiere ab. Dass sie bis zur Wiedervereinigung als „ausgebürgert“ galten, erfuhren sie erst später. „Auf Wiedersehen“, den Satz, bei dem der Beamte jede Silbe betonte, haben sie noch im Ohr.
Zeitgleich versammelten sich immer mehr Menschen auf den Straßen von Dresden, Leipzig, Plauen und Berlin. Sie skandierten, hierbleiben und selbstbestimmt leben zu wollen: „Wir sind das Volk“. Waren es bei den friedlichen Montagsdemonstrationen in Leipzig Anfang September noch einige Hundert, protestierten einen Monat später bereits 70.000.
Die Proteste seien wichtig und mutig gewesen, aber sie selbst hätten sich wenig Chancen ausgerechnet, erklärt Christine Friedrich. „Es schien, als wäre die Mauer für die Ewigkeit gebaut.“ Schon einmal waren ihre Hoffnungen enttäuscht worden: Als Gorbatschow übernahm, standen die Zeichen auf Erneuerung – „wir dachten, das würde auf die DDR überschwappen“.
Am Theater Dessau, wo Christine arbeitete, wollten Regisseure Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) auf die Bühne bringen. Dabei galt bereits die Verbrüderung in „Romeo und Julia“ mit dem Ansatz, Feindbilder abzubauen, als Staatskritik. Nachdem sie einen Pressetext dazu verfasste, hatte man sie im Visier.
„Es hat lange in uns gearbeitet“, sagt Friedrich. Nicht nur der Umgang mit Kunst und Kultur empörte sie – ihr Mann erinnert an die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann –, sondern die Eingriffe in ihre Lebensplanung. Sie durfte mit einem Notendurchschnitt von 1,1 kein Abitur machen, er musste zwei Jahre in die Produktion, weil er nicht drei Jahre zur Armee, sondern studieren wollte. „So ein Land wollten wir unseren Kindern nicht zumuten, wir wollten, dass sie in Freiheit aufwachsen.“
Dennoch hatten sie Angst vor der Flucht: Sollten sie geschnappt werden, würde man ihnen die Kinder wegnehmen. Sie vertrauten darauf, dass sie es mit dem Auto schaffen würden. So wie viele andere auch. Mehr als 50.000 verließen allein im Juli und August die DDR. Im Nachhinein, sagt Christine Friedrich, sei auch dadurch die Mauer gefallen. Durch die Geflüchteten und jene, die zurückblieben und sich angespornt fühlten, auf die Straße zu gehen. Dass das dann alles relativ schnell kam, konnten sie nicht ahnen.
Zügig fuhren sie über Prag, Bratislava nach Rajka; den Kindern gaben sie erst vor der österreichischen Grenze Bescheid. Während sich der Sohn freute, weinte die vierjährige Tochter: „Sie wusste, dass sie ihre Freunde nicht mehr sehen würde.“
Im bayerischen Aufnahmelager entschieden sie sich, nach Baden-Württemberg zu fahren, wo sie Geflüchtete kannten. Aufgenommen hat sie schließlich ein BASF-Manager, der in der Nachkriegszeit mit der Mutter gen Westen ging. „Er war dankbar und wollte das weitergeben.“ Bis heute leben die Friedrichs in Sinsheim bei Heidelberg und haben dort ein Stadt- und Freiheitsmuseum aufgebaut. Aber auch Zeit gefunden, zu reisen. Die Donau haben sie mittlerweile oft gesehen – während des Telefonats sind sie gerade am Weg dorthin.
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