Juncker: "Das ist die übliche Politikbeschimpfung, die da stattfindet"
Er war über viele Jahre eine der prägendsten Persönlichkeiten der europäischen Politik. Als Chef der Euro-Gruppe war Jean-Claude Juncker war maßgeblich an den Strategien der EU im Kampf gegen die Finanzkrise beteiligt, setzte sich für ein "soziales Europa", aber auch für eine maßvolle Schuldenpolitik ein. Als Präsident der EU-Kommission (2014-2019) hatte er die Flüchtlingskrise zu bewältigen.
Aber der charismatische für seine oft mutige Wortwahl bekannte Luxemburger prägte die EU-Politik auch mit seiner Persönlichkeit, seiner Freude am Feiern und seinen längst legendären Umarmungen. Der KURIER traf den heute 69-Jährigen im Hauptquartier der EU-Kommission in Brüssel, wo er auch heute ein Büro hat.
KURIER: Vor diesen EU-Wahlen ist die Haltung zu Europa in vielen Ländern Europas negativ, in Österreich noch mehr als anderswo. Wie erklären Sie sich das?
Jean-Claude Juncker: Man hat von Europa, eine völlig falsche Auffassung, weil wir auch dieses Bild der Zerrissenheit manchmal darbieten. Das hat damit zu tun, dass die Regierungschefs den Europäischen Rat verlassen und großen Wert darauf legen, auf welchen Punkten sie sich gegen andere durchgesetzt hätten. Als ob europäische Räte Boxkämpfe wären. In Europa setzt niemand sich gegen den anderen durch, Europa stellt sich gemeinsam auf, um die Probleme zu lösen. Und deshalb sollte man darauf verzichten, den Ergebnissen, die erzielt werden, einen nationalen Anstrich zu geben. Das ist nicht die richtige Art, Europa darzustellen.
Man sollte darauf verzichten, den Ergebnissen, die erzielt werden, einen nationalen Anstrich zu geben. Das ist nicht die richtige Art, Europa darzustellen.
Warum aber wissen die Bürger so wenig über die EU?
Man kann nicht alle Verantwortung bei der Europäischen Union und bei der Politik insgesamt abladen. Die Bürger sind auch dazu aufgerufen, sich für die Dinge zu interessieren und die Dinge zu hinterfragen. Mir ist bei vielen Veranstaltungen mit Bürgern der eigentlich bedauernswerte Informationsstand der Bürger aufgefallen. Und weil die Leute jeden Tag in der Zeitung lesen, im Rundfunk hören und im Fernsehen sehen, dass die Europäische Union sich in alle Dinge einmischt, denken viele: Die Europäische Union ist für alles zuständig. Das ist aber nicht so. Die Hälfte der Fragen, die mir quer durch Europa gestellt wurden, waren Fragen, die die Europäische Union und die Europäische Kommission mitnichten betrafen.
Und weil die Leute jeden Tag in der Zeitung lesen, im Rundfunk hören und im Fernsehen sehen, dass die Europäische Union sich in alle Dinge einmischt, denken viele: Die Europäische Union ist für alles zuständig. Das ist aber nicht so.
Nicht jedes Problem, das es in Europa gibt, ist ein Problem für die Europäische Union. Man soll groß, in großen Dingen, klein in kleinen Dingen sein. Die EU-Kommission soll aufpassen, sich nicht in Dinge einzumischen, die bei den Kommunen und bei den Bundesländern, bei den nationalen Regierungen und Parlamenten besser aufgehoben sind als in Brüssel. Man sieht nicht gut aus der Ferne.
Gelingt es deshalb den Rechtspopulisten so leicht, mit ihren Parolen zu punkten?
Die Probleme, die europäischen und die weltweit, sind so kompliziert geworden, so vielschichtig, dass man schon ein gerüttelt Maß an Freizeit opfern muss, um sich durch diese Probleme durchzukämpfen. Was wiederum erklärt, wieso Populisten und Rechtsextremisten einen leichten Stand haben. Weil die einfach reden und nicht kompliziert denken. Man muss aber kompliziert denken und einfach reden. Einfach denken und dann einfach reden, genügt nicht.
Was ist ihre politische Antwort auf die Rechtspopulisten?
Europa wird diese populistische Herausforderung meistern. Ist ja nicht das erste Mal, dass extreme rechte Kräfte an Zustimmung gewinnen. Die FPÖ ist ja keine Erscheinung von gestern Abend, hat ja auch einen langen Atem. Ist das die Schuld der FPÖ? Es gibt immer dieses Auf und Ab der Einflussnahme extremer Kräfte in Europa und in den Nationalstaaten. Und dem könnte man dadurch entgegenwirken, dass man tunlichst vermeidet, so zu reden wie die Populisten. Auch in den klassischen Parteien gibt es immer wieder Stimmen, die so reden, dass die Menschen beim Zuhören denken, dass die Populisten eigentlich recht haben, weil die klassischen Parteien auch anfangen, in dieselbe Kerbe zu hauen. Populisten stört man nicht durch Nachahmung, sondern dadurch, dass man sich ihnen argumentativ in den Weg stellt.
Die Menschen denken beim Zuhören, dass die Populisten eigentlich recht haben, weil die klassischen Parteien auch anfangen, in dieselbe Kerbe zu hauen. Populisten stört man nicht durch Nachahmung, sondern dadurch, dass man sich ihnen argumentativ in den Weg stellt.
Hat die EU vor diesem Krieg Russland falsch eingeschätzt. Hätte man nicht schon früher, etwa in ihrer Zeit als Kommissionspräsident, die Gefahr erkennen müssen?
Es ist wohlfeil, darüber zu sinnieren, ob man im Umgang mit Russland nicht früher die Bremsen hätte ziehen können. Das ist teilweise wahr, teilweise aber auch naiv. Wenn man zum Beispiel 2007 erklärt hätte: Wir müssen jetzt mit Russland andere Saiten aufziehen. Wir stellen unsere Beziehungen zu Russland ein. Wir treffen uns nicht mehr mit Putin, also alles das, was man jetzt tut. Wir müssen jetzt aufrüsten. Wir müssen mehr Geld für Verteidigung aufbringen. Denken Sie wirklich? Dieser Diskurs hätte breite Zustimmung gefunden? Wenn wir damals gesagt hätten, wir müssen aufrüsten, weil Russland ist nach wie vor eine große Gefahr, dann wären wir doch der Kriegstreiberei bezichtigt worden. All diejenigen, die sagen, wir wären naiv gewesen, haben damals nicht dazu aufgerufen, die Beziehungen zu Russland einzustellen und aufzurüsten. Insofern ist das die übliche Politikbeschimpfung, die da stattfindet.
Wir waren wohl zu Unrecht, davon überzeugt, dass Wandel durch Handel herbeigeführt werden könnte. Tatsache ist, man kann mit den Chinesen zwar über Menschenrechte reden, aber nicht auf sie einwirken, ob man Sanktionen verhängt oder nicht.
Und gegenüber China, mit dem jetzt ein Handelskrieg immer näher rückt?
Ich bin sehr dagegen, dass man sich jetzt von China abkoppelt. Ich bin der Meinung, dass man Risikominimierung betreiben soll. Wir waren wohl zu Unrecht, davon überzeugt, dass Wandel durch Handel herbeigeführt werden könnte. Tatsache ist, man kann mit den Chinesen zwar über Menschenrechte reden, aber nicht auf sie einwirken, ob man Sanktionen verhängt oder nicht. Die Chinesen haben andere Sorgen als Menschenrechte. Ich bedauere das sehr. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, allen Chinesen Wohnungen zur Verfügung zu stellen, alle Chinesen anständig zu ernähren. Der chinesischen Führung ist das gelungen, 800 Millionen Chinesen aus der Armut heraus zu führen. Wo sind denn die Stimmen jetzt in der Wirtschaft, die dazu auffordern, dass wir mit China kurzen Prozess machen sollten? In Deutschland gibt es Firmenchefs zuhauf, die davor warnen, jetzt die Beziehungen zu China verlottern zu lassen. In zehn Jahren wird man sagen, wir waren naiv. Sie hatten aus dem Russlandvorgang gar nichts gelernt. So einfach sind die Dinge nicht.
Ist die EU überhaupt in der Lage, ihre weltpolitische Rolle wahrzunehmen?
Ich habe vor Jahren schon bemängelt, dass die Europäische Union eigentlich nicht politikfähig ist, weil es reicht, dass ein einzelner Mitgliedstaat der gemeinsamen Beschlussfassung nicht zustimmen kann, weil er nationale Interessen zu verfolgen hat. Deshalb müssen wir einsehen, dass wir, wenn wir Weltpolitik-fähiger werden sollten, wenn wir unserer Stimme mehr Gewicht verleihen wollen, in Fragen der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit entscheiden müssen, mit Ausnahme des Entsendens von Soldaten in Kriegsgebiete. Das müssen nationale Regierungen, nationale Parlamente entscheiden und nicht die Europäische Union.
Die wohl entscheidendste Zukunftsfrage für die EU ist aber die nächste Erweiterung?
Für die Westbalkanstaaten plus Ukraine, Georgien, Moldau gilt, die Aufnahme in die EU kommt, wenn sie zu dieser Aufnahme fähig sind. Das sind sie zurzeit nicht. Die Mitgliedschaft ist keine Belohnung, sondern die Anerkennung einer erbrachten Leistung. Man kann nicht, obwohl ich dafür jedes Verständnis der Welt habe, aus geopolitischen Gründen eine Erweiterung im Galopp machen.
Zehn Tage Krieg sind teurer als zehn Jahre europäische Union. Seit es die EU gibt, reden wir über Krisen. Also ich habe immer nur Krisen, Krisen, Krisen gehört. Und sobald eine Krise gemeistert ist, redet niemand über europäische Erfolge. Aber die Europäische Union insgesamt ist ein Erfolg.
Aber Sie sehen das Risiko, politischer Instabilität, wenn wir diese Staaten noch länger vor der Tür lassen?
Ich mache mir große Sorgen um die Friedenserhaltung oder um die Erhaltung friedlicher Zustände im Balkan, wenn wir nicht energisch genug den Beitritt dieser Staaten verfolgen. Aber das hängt weitaus mehr von diesen Staaten ab als von der Europäischen Union. Man sollte nicht den Fehler begehen, diesen Menschen, vor allem in der Ukraine, falsche Hoffnungen zu machen. Man soll sie ermuntern, die Reformschritte einzuleiten, die es braucht, aber es ist noch nicht so, wie es sein muss, um ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union werden zu können.
Der Luxemburger: Der Sohn eines Stahlarbeiters machte Karriere in der christlichsozialen Volkspartei und wurde 1995 Premierminister seines Landes.
Der Europäer: Als Chef der Euro-Gruppe war Jean-Claude Juncker maßgeblich an den Strategien der EU im Kampf gegen die Finanzkrise beteiligt, setzte sich für ein „soziales Europa“, aber auch für eine maßvolle Schuldenpolitik ein. Als Präsident der EU-Kommission (2014-2019) hatte er die Flüchtlingskrise zu meistern.
Der Berufspolitiker: Junckers Leben war immer die Politik. Ihm gelang es oft, in heiklen Fragen politische Brücken zwischen Deutschland und Frankreich zu bauen.
Welche Antwort also geben Sie heute Bürgern, die in der EU nur das Schlechte sehen wollen?
Zehn Tage Krieg sind teurer als zehn Jahre europäische Union. Seit es die EU gibt, reden wir über Krisen. Also ich habe immer nur Krisen, Krisen, Krisen gehört. Und sobald eine Krise gemeistert ist, redet niemand über europäische Erfolge. Aber die Europäische Union insgesamt ist ein Erfolg. Ich bin kein Europa-Enthusiast und bin auch kein Europafanatiker, bin auch nicht blauäugig und naiv. Aber ich lebe lieber auf dem europäischen Kontinent als auf einem anderen.
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