Das Fundament wackelt: Ist Demokratie noch das Maß aller Dinge?

Geburtsstätte der attischen Demokratie der Antike: Die Akropolis in Griechenland.
Im späten 20. Jahrhundert galt die westliche Demokratie als Erfolgsmodell für die Welt. Heute sind ihre Fundamente wackelig.

Sinkende Verbreitung, schwindende Popularität beim jungen Publikum und in neuen Märkten, unscharfes Image: Mit dem Blick eines Marketing-Experten betrachtet, ist das Produkt in der Krise und braucht eine Neupositionierung. Das Dumme dabei ist nur: Das Produkt heißt Demokratie – und Aufmerksamkeit erweckt die derzeit vor allem mit Spekulationen über ihr Ableben. „Stirbt die Demokratie?“, fragte sich kürzlich das US-Magazin Foreign Affairs, „Was lief falsch mit der Demokratie?“ der Economist.

Demokratieexport, das war einmal ein populäres Schlagwort für die Bemühungen des Westens, die repräsentative Demokratie in anderen Weltgegenden zu installieren. In den gefallenen kommunistischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas hatte das ja funktioniert. Dissidenten, mit Geld und Logistik unterstützt und als Gäste im Westen imagemäßig aufpoliert, wurden nach dem Umbruch 1989 prägende politische Persönlichkeiten in ihren Heimatländern.

Demokratie-Export floppt

Doch das Modell funktionierte schon am Balkan oder in der Ukraine deutlich schlechter, produziert bis heute instabile Staaten und Regierungskonstellationen. Jene Demokratien, die man im Windschatten von US-Militäroperationen in Afghanistan und dem Irak installieren wollte, blieben ohnehin Schimäre. Der arabische Frühling produzierte zuletzt Krieg und Militärdiktaturen – statt der von Bürgerrechtlern erträumten Demokratie.

Während der Demokratie-Export floppt, etabliert sich China als globales Gegenmodell. Eine wirtschaftliche Supermacht, die Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelschicht befördert hat, und doch den absoluten Machtanspruch der Kommunistischen Partei aufrecht erhält – oft mit brutaler Gewalt gegen Minderheiten und Andersdenkende. Modernisierung ohne Liberalisierung, Wirtschaftswunder ohne Demokratie: In afrikanischen Staaten etwa trifft diese politische Botschaft auf offene Ohren.

Auch in Europa ist die Demokratie in der Defensive. In Ländern wie Ungarn oder Polen behalten die Regierenden zwar die äußere Form der Demokratie bei, höhlen aber Rechtsstaat, Parlamentarismus und Meinungsfreiheit aus, um so ihre Macht zu sichern. „Viktor Orban hat sich als strategisches Machtzentrum in Ungarn etabliert“, analysiert der Ungarn-Experte Marton Mehes die Strategie des Regierungschefs: „das ist inzwischen so stabil, dass die anderen Parteien nur rundherum kreisen können.“

Um solche zunehmend autoritären Systeme zu etablieren ist heute kein Umsturz, kein Putsch mehr notwendig. Man bedient sich einfach der ideologisch ausgehöhlten Strukturen der demokratischen Systeme. Zunehmend ausgehöhlt scheinen die auch in vielen westlichen Demokratien. Rechtspopulisten übernehmen politische Verantwortung oder treiben die politisch Verantwortlichen vor sich her.

Für den deutschen Politologen Claus Leggewie sitzen die Ursachen dafür tief in unseren Gesellschaften: „Es gab immer Gruppen, die sich nie mit der Demokratie identifiziert haben. Die haben durch die Rechtspopulisten und ihre völkisch autoritäre Agitation einfach ein Sprachrohr gefunden.“

Männer in der Überzahl

Natürlich habe die wachsende soziale Kluft in den Gesellschaften diese Gruppen größer und lauter und werden lassen. Doch diese Ungleichheit allein würde die Demokratie verkraften. Die Finanzkrise 2008 und die Entstehung einer Parallelgesellschaft der Finanzwirtschaft habe bei vielen Menschen das Gefühl erzeugt, dass rechtsstaatliche Spielregeln für manche ohnehin nicht mehr gelten würden: „Sie fühlen sich von den Entscheidungen ausgeschlossen, machtlos. Das wird dann wirklich zum Problem für die Demokratie.“ Diese Gruppe, in der Männer klar in der Überzahl seien, sei von einem gemeinsamen Grundgefühl geprägt:„Sie kommen mit einer wirtschaftlich, aber auch kulturell globalisierten Welt nicht mehr zurecht, empfinden auch die Freiheiten, die diese Gesellschaft bietet, als Überanstrengung.“

Haben die westlichen Gesellschaften also ihre Bürger überfordert, mit der Migration etwa und dem Multikulturalismus? Leggewie bestreit das vehement: „Die Integration haben unsere Gesellschaften im großen und ganzen gut bewältigt. Da werden Einzelfälle übergroß dargestellt.“ Natürlich würde das alles ständig Konflikte erzeugen, aber „genau diese Konflikte sind es, die eine Gesellschaft am Leben erhalten, die sie im Endeffekt voranbringen.“ Für den Politologen ist das die derzeit zu gering geschätzte und zu wenig gelebte Qualität der Demokratie: „Diese Konflikte sind nur in einer Demokratie möglich – und das macht sie autoritären Systemen überlegen.“

Wer in China nur die kommunistische Machtmaschine betrachte, würde übersehen, dass die chinesische Gesellschaft heute offener und pluraler sei als zu Beginn des kapitalistischen Wirtschaftswunders. Das Xi Jinping jetzt versuche, die Zügel anzuziehen, sieht der Politologe als Zeichen, dass die Partei Angst vor der eigenen Schwäche habe. Staaten wie Taiwan und Südkorea hätten ihren wirtschaftlichen Erfolgskurs nur fortsetzen können, weil sie demokratisch wurden.

Europas Demokratien, so Leggewies Empfehlung, sollten sich ihrer Stärke bewusst sein. Statt eine Abwehrschlacht gegen Nationalisten zu führen, müsse die EU zusammenwachsen, vertieft werden. Die europäischen Gesellschaften müssten sich trauen, multikultureller, pluraler zu werden, statt sich in die 1960er zurückzuwünschen. „Die Demokratie“, so Leggewie, „leidet nicht am Pluralismus, sondern am Egoismus der Bürger.“

Gert Korentschnig über die Vermessung der Welt

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