Tel Aviv gilt als „Stadt ohne Pause“. Doch die Explosion um 3 Uhr früh am Freitag unterbrach den Schlaf Zigtausender Einwohner. Ein Lenkflugkörper (LFK) der mit dem Iran verbündeten schiitischen Huthi-Miliz aus dem 2.000 Kilometer entfernten Jemen explodierte in Strandnähe. Direkt über dem Bauhaus-Viertel, dem UNESCO-Welterbe. Ein 50-Jähriger wurde bei offenem Fenster im Schlaf getötet, „von Splitterwunden übersät“, zehn Menschen leicht verletzt.
Spätestens seit dem Großangriff des Iran im April mit 300 Raketen weiß jeder, dass ganz Israel von Raketen bedroht ist. In dieser Nacht verinnerlichten die Israelis das, die Nachtschwärmer waren Zeugen: „Wir hörten Motorlärm von oben, dann ein Schatten, der sofort wieder verschwand und sofort auch diese ohrenbetäubende Explosion.“ Rachel musste mit einer Splitterwunde am Arm im Spital behandelt werden: „Mein Sohn spielte noch am Computer. Er durfte wegen seines Geburtstags aufbleiben. Schreiend weckte er uns. Er sah am Fenster ein Flugzeug vorbeihuschen, da rummste es auch schon.“
Ein anderer Nachbar glaubte, sein Haus sei getroffen: „Die Detonation ließ das ganze Gebäude erzittern. Dabei geschah alles 80 Meter weiter.“ Ronni (43) schaute um 5 Uhr früh den Räumungsarbeiten zu. „Im Landesnorden geht es seit Monaten so zu. Jetzt auch bei uns. Easy morgens im Strandcafé sitzen und aufs Meer schauen, wird nicht mehr so easy sein.“ Im Norden schlägt fast täglich die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah zu. Ein weiterer Iran-Verbündeter.
Israels Luftabwehr untersucht, wie der Lenkflugkörper ungehindert über 2.000 Kilometer bis Tel Aviv fliegen konnte. Der Verdacht bestand, die Huthi hätten die Verantwortung für einen Angriff übernommen, der aus einem näher an Israel liegenden Ort abgeschossen wurde. Später hieß es, der LFK sei im Flug geortet worden. „Menschliche Fehleinschätzung“ habe jedoch den Abfang verhindert.
Eine Militärkorrespondentin explodierte vor laufendem Mikrofon: „Wie nach der mörderischen Attacke der Hamas im Gazastreifen. Immer kommt jemand und entschuldigt sich für menschliches Versagen. Ich hab das so satt. Echte Verantwortung besteht immer. Nicht nur im Nachhinein. Ein Mensch ist tot.“
Eine neue Laser-Waffe gegen Lenkflugkörper hat bereits einige erfolgreiche Versuche hinter sich, ist aber noch in Entwicklung. Israel hat schon in wenigen Probeangriffen gezeigt, dass man die Huthi direkt im Jemen angreifen kann.
Eine offizielle Stellungnahme der Regierung blieb bis Freitagmittag aus. Um die Verzögerung zu überspielen, hieß es inoffiziell: „Premier Benjamin Netanjahu wird ständig über die Lage unterrichtet.“
Israel hat den eigentlichen Kampf gegen die Huthi den USA und Großbritannien überlassen. Washington ist wie auch die israelische Armee an einer überregionalen Ausweitung der Kämpfe im Gazastreifen und Südlibanon nicht interessiert. Wie die Entscheidung zu einem Abkommen mit der Hamas über einen Waffenstillstand mit Geiselfreilassung liegt auch die Entscheidung über eine Reaktion wieder bei Benjamin Netanjahu. Doch der hat in diesem Krieg noch jede wichtige Entscheidung nur vor sich hergeschoben.
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