Gleichstellung mit Hamas-Massakern? Was Israel-Premier Netanjahu vorgeworfen wird
Wird das Vorgehen Israels vom Internationalen Strafgerichtshof tatsächlich mit den Hamas-Massakern gleichgestellt? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Es war eine Sensation: Am Montag empfahl der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, der Jurist Karim Ahmad Khan, Haftbefehle gegen die Hamas-Führung, aber auch gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant. In einer ausführlichen schriftlichen Begründung sieht er die beiden als Hauptverantwortliche für eine Reihe von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Doch was wird den beiden konkret vorgeworfen? Wird das Vorgehen der israelischen Armee hier wirklich - wie von Netanjahu kritisiert - mit den Massakern der Terrormiliz Hamas am 7. Oktober gleichgesetzt? Und was passiert, wenn die Richter des IStGH der Empfehlung folgen sollten?
Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen:
Was ist der Internationale Strafgerichtshof?
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), mit Sitz in Den Haag, ist seit 22 Jahren aktiv. 124 Staaten, darunter die gesamte EU, also auch Österreich, erkennen ihn an. Seine Aufgabe ist es, u. a. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu ahnden. Angeklagt werden individuelle Personen, keine Staaten. Der IStGH ist kein Teil der UNO, viele Staaten erkennen ihn nicht an, darunter die USA, China, Russland, Israel und die Türkei. Sein erstes Urteil hat das Gericht 2012 erlassen: Der ehemalige kongolesische Warlord Thomas Lubanga wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt. Er hatte Tausende Kindersoldaten zwangsrekrutiert.
Was bedeutet ein Haftbefehl des IStGH?
Schreibt der IStGH einen Haftbefehl aus, ist die Immunität für jeden politischen Amtsträger, egal ob Premier oder Präsident, aufgehoben. Alle Staaten, die den Gerichtshof anerkennen, müssten Israels Regierungschef verhaften und an Den Haag ausliefern, sollte gegen Netanjahu tatsächlich ein Haftbefehl erstellt werden. Das gilt auch für Österreich. Sollte allerdings ein Staat dem nicht nachkommen, hätte das Gericht keine Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Der Haftbefehl des IStGH kann nicht angefochten werden und gilt lebenslang.
Was sind die konkreten Vorwürfe an die Hamas-Führung?
Den drei Hamas-Führern Yahya Sinwar (Hamas-Chef im Gazastreifen), Mohammed al-Masri (Kopf des militärischen Arms der Hamas, der al-Kassam-Brigaden) und Ismail Haniyeh (Chef des Hamas-Politbüros mit Sitz in Katar) wird eine Reihe von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, konkret: (Massen-)Mord, Vertreibung, Geiselnahmen, Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Gewalt, Folter sowie grausame Behandlung von Gefangenen.
All diese Verbrechen seien Teil eines “großflächigen und systematischen Angriffs auf israelische Zivilisten” gewesen. Gespräche mit Überlebenden und Angehörigen hätten gezeigt, dass einige israelische Geiseln “zum Ziel sexueller Gewalt, darunter Vergewaltigungen” geworden seien sowie dass “die Liebe innerhalb einer Familie, die tiefste Verbindung zwischen Eltern und ihrem Kind, dazu missbraucht wurde, unfassbare Schmerzen zu verursachen”.
Sinwar, al-Masri und Haniyeh hätten den Großangriff am 7. Oktober geplant; ohne die Taten der drei Hamas-Führer, so heißt es in der Begründung des Haftbefehls, “hätten diese Verbrechen nicht begangen werden können”.
Was sind die konkreten Vorwürfe an Netanjahu und Gallant?
Auch dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, konkret: Das Aushungern von Zivilisten, absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, (Massen-)Mord, Vertreibung und Verfolgung.
Die israelische Armee hindere „Zivilisten im Gazastreifen gezielt und systematisch am Zugang zu Gütern, die für das menschliche Überleben unverzichtbar sind“, indem sie „willkürlich“ Lieferungen von Lebensmitteln und Medizin an den Grenzübergängen blockiere. Dazu habe sie die Wasserversorgung des Gazastreifens bewusst gestoppt und „Angriffe auf Zivilisten sowie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen“ durchgeführt, „darunter jene, die bei Essensausgaben anstanden“.
All das sei Teil eines „gemeinsamen Plans“, Hunger als Kriegsmittel einzusetzen, „um die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv zu bestrafen, weil sie als Gefahr für den israelischen Staat angesehen wird“. Dieses Vorgehen dauere bis heute an; Netanjahu und Gallant seien dabei zwecks ihrer Funktion sowohl Mittäter als auch oberste Verantwortliche.
Werden die Vergehen Israels und der Hamas also gleichgestellt?
Nein. Der IStGH empfiehlt zwar Haftbefehle gegen die obersten Befehlshaber auf beiden Seiten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen, die ausführlich aufgelistet sind. (Massen-)Mord und Vertreibung wird beiden Seiten vorgeworfen. Zur Beweisaufnahme führten Mitarbeiter des IStGH Gespräche mit Überlebenden der Hamas-Massaker, mit israelischen Geiseln und deren Angehörigen sowie mit Vertretern von Hilfsorganisationen.
Anders als bei der Hamas weist der Gerichtshof in seiner Begründung zum Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant aus: “Israel hat, wie alle Staaten, ein Recht darauf, militärische Maßnahmen zu ergreifen, um seine Bevölkerung zu schützen. Dieses Recht befreit Israel jedoch nicht von der Pflicht, sich im Rahmen des internationalen Menschenrechts zu bewegen.” Man habe die Regierung zudem mehrfach davor gewarnt, dass ihr Vorgehen Haftbefehle nach sich ziehen dürfte.
Wer ist der Chefankläger?
Seit drei Jahren ist Karim Ahmad Khan Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Brite arbeitete bereits für die Vereinten Nationen Kriegsverbrechen auf, unter anderem nach dem Jugoslawienkrieg und während des syrischen Bürgerkriegs. Zur Beweisaufnahme reiste er persönlich in die israelischen Kibbuzim, in denen die Hamas-Massaker stattfanden sowie an die ägyptische Seite der Grenzübergänge in den Gazastreifen.
Die israelische Regierung wirft Khan vor, parteiisch zu sein, weil er als Sohn pakistanischer Einwanderer in einem muslimischen Haushalt aufwuchs. Doch die Entscheidung für den Haftbefehl fällte Khan gemeinsam mit einer sechsköpfigen Expertenkommission, der unter anderem der israelisch-US-amerikanische Völkerrechtler Theodor Meron sowie die britisch-libanesische Menschenrechtsanwältin Amal Clooney angehören.
Gegen wen gibt es bereits einen derartigen Haftbefehl?
Im März des Vorjahres wurde ein Haftbefehl gegen Russlands Präsident Wladimir Putin ausgestellt. Das schränkt die Bewegungsfreiheit des Kremlherrn extrem ein. Er kann in kein Land reisen, das den IStGH-Vertrag unterzeichnet hat. Putin wird der Entführung Tausender Kinder aus der Ukraine beschuldigt.
Ein Haftbefehl liegt auch gegen Sudans früheren Präsidenten Omar al-Baschir vor - und das seit 15 Jahren. Er befindet sich derzeit im Bürgerkriegsland Sudan in Haft. Andere Angeklagte: Saif al-Islam al-Gaddafi (Libyen), der ugandische Warlord Joseph Kony und viele mehr. Netanjahu und Gallant wären aber die ersten demokratisch gewählten Vertreter mit IStGH-Haftbefehl.
Was tut Israel, um die drohenden Haftbefehle zu bekämpfen?
Viele Staaten, vor allem die USA, aber auch Österreichs Kanzler Nehammer kritisieren die Absicht von IStGH-Chefankläger Khan, gegen Israels Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant einen Haftbefehl zu erlassen. Die endgültige Entscheidung liegt nun bei den Richtern, das kann einige Wochen dauern.
Israel wird versuchen, weltweit politischen Druck gegen den Gerichtshof aufzubauen und hofft dabei auf die Unterstützung der USA. Eine Möglichkeit dabei wäre es, die IStGH-Mitgliedsstaaten zu drängen, keine Beitragszahlungen an das Gericht mehr zu leisten.
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