Proteste im Irak: „Wir wollen nicht das Schlachtfeld anderer sein“
„Die Menschen sind so wütend“, sagt Nadia Mahmood im Telefongespräch zum KURIER. Im Hintergrund hört man die Rufe von Protestierenden in ihrer Heimatstadt Nasriya. „Die Iraker wollen nicht, dass ihr Land ein Schlachtfeld von ausländischen Playern ist“, sagt die Akademikerin und Aktivistin. Auch sie selbst hat demonstriert.
Im Irak deutet sich seit Oktober eine sanfte Revolution an. Vorwiegend schiitische Massenproteste richteten sich gegen die Iran-nahe Regierung. Die Vorwürfe: Korruption, Misswirtschaft und nicht zuletzt Auslandseinfluss: aus dem Iran. Der schiitische Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi trat deshalb vergangenen Dezember zurück – ist derzeit aber noch „geschäftsführend“ tätig.
Konterrevolution
Das dürfte sich vorerst nicht ändern: Die pro-iranische Regierung im Irak nütze die jüngste Eskalation, um von den Protesten abzulenken, betont der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad.: „Es kann sein, dass die irakische Elite den Moment für eine Konterrevolution ausnutzt, die Proteste auslöscht und ihre Macht zementiert. Insgesamt ist das eine sehr ungute Situation für die Bevölkerung.“
Dabei hat die politische Elite wichtige Unterstützer: Pro-iranische Milizen sind im Irak ein militärischer Faktor. Etwa die Badr-Brigaden oder die Kata’ib Hezbollah. Die USA haben mit Qassem Soleimani zwar den Kopf der Milizen getötet – was auch „zu Freude auf den irakischen Straßen geführt“ habe, wie Fathollah-Nejad betont. Für die Protestbewegungen war das allerdings keine Hilfestellung. Sie sind aus der öffentlihen Wahrnehmung verschwunden.
Proteste finden aber immer noch täglich statt, erzählt Nadia Mahmood. Sie hat allerdings bemerkt, dass seit der jüngsten Eskalation weniger Frauen unter den Demonstranten sind – „aus Sicherheitsgründen“ wie sie sagt. Seit dem Beginn der Proteste sollen pro-iranische Milizen über 400 Demonstranten getötet haben. Sie gelten als Schattenarmee der schiitischen Regierung.
Souveränität und Würde
Ihr größter Gegenspieler sind die etwa 5.000 US-Soldaten, die im Irak stationiert sind. Das irakische Parlament hat am 5. Jänner dafür gestimmt, ausländische Truppen auszuweisen. Sunnitische und kurdische Abgeordnete blieben der Abstimmung größtenteils fern - sie sollen von pro-iranischen Milizen Morddrohungen erhalten haben. Ob die Abstimmung verbindlich und ihr Ergebnis durchsetzbar ist, bleibt vorerst unklar.
Fest steht: Auch gegen die US-Soldaten richten sich die Sprechchöre der Demonstranten etwa in Bagdad, Basra oder Nasriya. „Für die Demonstranten hat die irakische Regierung weder Souveränität noch Würde“, sagt Nadia Mahmood. „Sie wollen eine starke Regierung, die sich endlich von beiden Seiten – Teheran und Washington – lossagt.“
Doch auch wenn die Demonstranten den US-Einfluss und Trumps Kriegsgebaren ähnlich satt haben wie die iranischen Einflüsse, ist für Fathollah-Nejad aus geopolitischer Sicht offensichtlich: „Falls die Amerikaner ihre Truppen aus dem Irak abziehen, übernimmt der Iran die Macht im Irak. Ganz nüchtern analysiert kann das nicht im Sinne der Iraker sein, wenn dieses Gegengewicht verschwindet.“
Wirtschaftlich sieht es eigentlich gut aus
Das Land ist seit Jahren instabil. Seit 2003 gibt es immer wieder Proteste – auch die aktuellen reißen nicht ab. Heute, Freitag, sind wieder große Massenkundgebungen geplant – „Marsch der Millionen“ nennen es die Aktivisten.
Die Unzufriedenheit, die sich seit Oktober in den Demos entlädt, bezieht sich vor allem auf die politische Elite im Land. Korruption ist immer noch vorherrschend, Gewalt ebenfalls. Die Arbeitslosenquote ist hoch – auch unter Akademikern – während es im Bildungsbereich an allen Ecken fehlt. Und das in einer Zeit, in der es dem Land wirtschaftlich eigentlich gar nicht schlecht geht: Der Staatshaushalt lag im vergangenen Jahr bei einer Rekordsumme von 100 Milliarden Euro, aufgrund des hohen Ölpreises.
Neue Flüchtlingswelle?
Der Wiener Landtagsabgeordnete Omar Al-Rawi (SPÖ) steht in regem Austausch mit Bekannten und Verwandten im Irak. „Während der Protestbewegung gab es eine wahnsinnige Aufbruchsstimmung. Die iranischen Gruppierungen im Irak waren da eher schmähstad“, berichtet Al-Rawi dem KURIER.
Al-Rawi befürchtet eine „schlimme Eskalation“. Er sieht es ganz ähnlich, wie Fathollah-Nejad: Sollten die USA tatsächlich ihre Truppen abziehen, könnte ein Machtvakuum entstehen. „Es besteht die Gefahr, dass der IS wieder erstarkt oder sich auch im Gegenzug pro-iranische Gruppierungen radikalisieren“, meint Al-Rawi. Diese Gruppierungen könnten sich aus Milizen des von den USA getöteten Generals Qasem Soleimani rekrutieren.
Erste Anzeichen dafür gab es am Dienstag bereits im südlichen Irak, in Nasriya - eben der Heimatstadt von Nadia Mahmood. Laut irakischen Informanten hat eine bisher unbekannte Miliz dort massive Übergriffe an Demonstranten verübt. Verschiedene Online-Quellen berichten zumindest von mehreren Verletzten.
Al-Rawi, Integrationsbeauftragter der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), warnt jedenfalls: Eine neuerliche Flüchtlingswelle nach Europa könnte bevorstehen.
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