Gerken analysiert für die global operierende US-Beraterfirma BCA strategische Risiken – und die seien in der gesamten Nahost-Region auch weiterhin hoch: „Trump sieht China als wichtigste Herausforderung und will daher nicht tiefer in einen
Konflikt im Nahen Osten hineinschlittern. Also versucht er, sich aus der Region allmählich zurückzuziehen. Doch das könnte ziemliche Erschütterungen auslösen.“
Zentrale Frage: Iran
Denn für den US-Experten lässt ein US-Rückzug eine zentrale Frage ungelöst, die Rolle des Iran – und damit die unvermeidliche Konfrontation mit den
USA: „Die Iran-Frage ist die zentrale Frage für den Nahen Osten. Der Iran ist das einzige Land in Nahost, das wirklich in der Lage ist, die Region zu dominieren. Das aber kollidiert mit dem Prinzip der USA, da man dort keine Vormachtstellung eines anderen Landes akzeptieren will.“
Den großen Krieg zwischen der Supermacht und der Regionalmacht hält der Experte für unwahrscheinlich. Viel eher könnte sich eine Art Stellungskrieg entwickeln, „und der absehbare Schauplatz dieses Stellungskrieges wird der Irak sein.“ Das Land gerate immer tiefer in eine politische und soziale
Krise. Ein endgültiger Abzug der USA, wie er auch in Washington debattiert wird, würde das Land noch näher an den Rand des Zerfalls bringen.
Dass Trump in diesem Konflikt einmal brutal (Tötung des Iraners Soleimani), einmal beschwichtigend (kein weiterer militärischer Gegenschlag) und ohne erkennbare Strategie auftritt, sei ein Risiko für die Region, nicht aber für den US-Präsidenten: „In diesem US-Wahljahr ist die einzige kurzfristige Gefahr für Trump, dass sich der Konflikt auf die Treibstoff-Preise an den US-Zapfsäulen auswirken kann.
Die USA ist viel weniger abhängig von Energieimporten als früher. Das gibt Trump Rückenwind und lässt ihn in dieser Krise offensiver auftreten. Aber die Auswirkungen einer möglichen Ölkrise auf die Treibstoffpreise treffen auch die US-Konsumenten.“
Der Konflikt mit dem Iran werde aber auch nach dieser Wahl weitergehen: „Vor allem, wenn Trump wiedergewählt wird, und seine Chancen stehen derzeit sehr gut. In seiner zweiten Amtszeit muss er weniger Rücksicht auf die Wirtschaft nehmen, das heißt, er kann auch radikaler gegen den Iran vorgehen.“
Wenn dagegen die Demokraten das Weiße Haus erobern würden, „werden sie eine Rückkehr zur Diplomatie anstreben. Dazu aber müssen sie auch mit den iranischen Hardlinern, die über den Trumpismus verbittert sind, fertig werden.“
Diese Hardliner hätten im Iran momentan die besseren Karten – auch im Rennen um die Nachfolge von Revolutionsführer Khamenei, das begonnen habe. Gertken: „Die Wirtschaftssanktionen der USA haben die Lage der Bevölkerung deutlich verschlechtert, das bringt viele Iraner dazu, sich hinter ihrer Führung zu versammeln.“
Chance auf Veränderung
Doch der Nahe Osten steht laut Gertken ohnehin langfristig vor ganz grundlegenden Veränderungen. Die schwindende globale Rolle von Erdöl und Erdgas, die zunehmende Energie-Unabhängigkeit der USA und die immer heftigeren sozialen Unruhen in der Region, alles Faktoren, die den Status quo in der Region auf lange Sicht ohnehin unhaltbar machen würden: „Das alles macht eine grundlegende politische Umwälzung im Nahen Osten langfristig unvermeidlich.“
Für Gertkin bedeutet das nicht ausschließlich das apokalyptische Szenario, das viele Experten und Politiker gerne vorhersagen: „Langfristig öffnet das die Chancen für positive Veränderungen im Nahen Osten, aber kurzfristig wird es zu schweren politischen und sozialen Erschütterungen kommen, und der Irak wird das Epizentrum dieser Erschütterungen sein.“
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