Warum Indien für den Westen wichtiger wird – und was es eigentlich will
Frankreich, die USA, Deutschland, Österreich - mehr und mehr westliche Regierungen bemühen sich um bessere Beziehungen zu Indien. Experten mahnen zu Vorsicht.
Es sind vertraute, innige Umarmungen, die auf den neuesten Fotos von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Indiens Premier Narendra Modi zu sehen sind. Macron besuchte Modi Ende Jänner zum bereits dritten Mal, diesmal feierte er einen Nationalfeiertag mit. 2022 war Modi umgekehrt bei der jährlichen Militärparade in Paris Ehrengast. Nun einigten die beiden sich auf eine engere Kooperation in den Bereichen Rüstungsgüter, Raumfahrt, Wissenschaft, Technik und Gesundheit.
Diese Reise war nur einer von aktuell vielen Versuchen westlicher Politiker, ihre Beziehungen zu Neu-Delhi zu intensivieren. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock flog etwa 2022 hin, sprach von "Wertepartnerschaft" und ließ sich von indischen Frauen die Kunst des Fladenbrot-Zubereitens lehren. US-Präsident Joe Biden rollte Modi 2023 den roten Teppich aus, tischte ihm ein von der indischen Küche inspiriertes 5-Gänge-Menü auf und ließ ihn vor dem UNO-Hauptquartier in New York eine einstündige Yoga-Einheit leiten. Ein paar Monate später empfing Modi dann beim von ihm ausgerichteten G20-Gipfel sowieso gleich eine ganze Schar an Staats- und Regierungschefs.
Das südasiatische Land gewinnt aus mehreren Gründen international enorm Bedeutung - aber warum eigentlich? Und kann Neu-Delhi überhaupt der Partner sein, den der Westen gerne hätte? Fünf Fragen, bei deren Beantwortung dem KURIER der deutsche Indien-Experte Oliver Schulz half.
In diesem Artikel erfahren Sie:
Wieso der Westen sich derzeit so stark um intensive Beziehungen zu Indien bemüht
Was diese Entwicklungen für die Inder selbst bedeuten
Wie Österreich zu Indien steht
Wie demokratisch die "größte Demokratie der Welt" tatsächlich ist
Und wo Indien geopolitisch einzuordnen ist
1. Immer mehr westliche Regierungen bemühen sich derzeit um engere Beziehungen zu Indien, das Land ist heute in der öffentlichen Wahrnehmung viel präsenter als noch vor einigen Jahren. Warum?
Einerseits fällt Indien mit seinem enormen Bevölkerungswachstum auf. Es zählt heute mehr als 1,4 Milliarden Einwohner, im April 2023 löste es China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ab. Fast 53 Prozent der indischen Bürger sind unter 30 Jahre alt.
Mit der Population wächst auch die Wirtschaft stark. Aktuell liegt Indien auf Platz 5 der größten Volkswirtschaften, hinter den USA, China, Japan und Deutschland. Nach Einschätzung von S&P Global Ratings wird Indien in den nächsten Jahren unter ihnen das wachstumsstärkste Land bleiben. Neu-Delhi kündigte kürzlich an, man wolle bis 2027 auf Platz 3 aufsteigen.
Besonders erfolgreich ist Indien im Bereich der Digitalisierung, unter anderem gilt es als Innovations-Hotspot für die Entwicklung Künstlicher Intelligenzen. Auch in der Raumfahrt spielt das Land bei den Großen mit: Vergangenen August gelang ihm seine erste Mondlandung – etwas, das bisher nur die UdSSR, die USA und China geschafft haben.
Westliche Staaten, die Indien derzeit umwerben, wittern also vor allem Potenzial für wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit. Dass das Interesse so groß ist, hat aber auch mit geopolitischen Umständen und Risiken zu tun.
Globale Herausforderungen ordnen Welt neu
Europa und die USA distanzieren sich aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht nur von Russland, sondern auch von China, das eine enge Partnerschaft mit Moskau pflegt und selbst immer wieder Taiwan mit einem Einmarsch droht. Man ist daher auf der Suche nach alternativen Partnern. Indien scheint da auf der Wunschliste weit oben zu stehen – wobei auch Indien ein Freund Russlands ist. Mit China hat es einen Grenzkonflikt im Himalaya.
Auch der Abzug der USA aus Afghanistan hat die Beziehungen zwischen dem Westen und Indien verbessert, hat Washington sich damit doch auch von Indiens Erzfeind Pakistan entfernt.
Indien-Experte Oliver Schulz sieht die neue Wahrnehmung Indiens als Teil einer größeren Veränderung: „Die Welt ist heute nicht mehr wie früher bipolar zwischen den USA und der UdSSR aufgeteilt. Mehrere andere Staaten werden heute als wichtiger wahrgenommen - etwa Brasilien oder Südafrika.“ Indien sei nur einer davon.
2. Was bedeuten diese Entwicklungen für die Inder selbst?
Die wachsende Bevölkerung macht Indien nicht nur einflussreicher, sondern stellt das Land auch vor große Herausforderungen. Mehr Menschen und eine stärkere Wirtschaft bedeuten mehr Treibhausgas-Emissionen. Trotz immer grünerer Politik - bis 2030 will es die Emissionen deutlich reduzieren - gilt Indien bereits jetzt als großer Umweltsünder. Die Feinstaubbelastung in und um Neu-Delhi gehört etwa zu den höchsten der Welt und liegt zum Teil um ein Vielfaches über den als akzeptabel angesehenen Grenzwerten der Weltgesundheitsorganisation.
Zudem ist der Klimawandel in Indien durch extrem hohe Temperaturen von bis zu 50 Grad Celsius zu spüren. Das hat zahlreiche Hitzetote zufolge.
Und Wirtschaftswachstum allein bedeutet für eine Bevölkerung nicht gleich Reichtum. Je mehr Menschen in Indien leben, desto mehr Jobs bräuchte es - aktuell gibt es zu wenig. Die enorme Arm-Reich-Schere, für die Indien seit langem bekannt ist, hat sich laut Schulz in den letzten Jahren "höchstens marginal" verbessert. "Wenn man aufs Land fährt, sieht man noch immer völlig kaputte Orte und unglaubliches Elend. In den Städten sieht man neben dem Elend zum Teil überbordenden Reichtum", sagt er.
Viele Menschen würden nach wie vor auf Müllbergen leben, im Dreck schlafen, kaum etwas zum Anziehen haben. Auch das offiziell verbotene Kastensystem, das Indern von Geburt an streng gesellschaftliche Ränge und Gruppen zuordnet, existiert nach wie vor.
Dass Indien international derart an Bedeutung gewinnt, hilft nicht zuletzt Modi und seiner rechtsgerichteten, hindunationalistische Bharatiya Janata Partei (BJP). Viele seiner Anhänger sehen in Modi schon lange jenen starken Mann, der das Land zur ersehnten Größe führen kann.
3. Wie steht Österreich zu Indien?
Österreich und Indien feierten kürzlich 75 Jahre diplomatische Beziehungen, die derzeit immer enger werden. Ähnlich wie für Berlin, Washington und Co. birgt Indien laut Außenministerium in Wien auch für Österreich "als wichtiger Partner ein enormes Potenzial" - in wirtschaftlicher, touristischer, technologischer sowie wissenschaftlicher Hinsicht. Der Indopazifik entwickle sich zum "geopolitischen und geoökonomischen Gravitationszentrum des 21. Jahrhunderts".
Ganze sieben Mal hat Außenminister Alexander Schallenberg seinen indischen Amtskollegen Subrahmanyam Jaishankar in den vergangenen zwei Jahren getroffen. Dabei ging es hauptsächlich um ein Migrationsabkommen, das im Mai 2023 abgeschlossen wurde. Im Jahr davor hatte man eine große Zahl indischer Migranten an der EU-Außengrenze beobachtet, die vor allem über Serbien nach Ungarn wollten. Österreich und Indien verpflichteten sich zu einer möglichst raschen Rückführung der illegalen Flüchtlinge aus Indien. Tatsächlich reduzierte sich die Anzahl dieser stark - das liegt aber vor allem an einer Änderung durch Serbien, nach der Inder nun nicht mehr visafrei dort einreisen dürfen.
Österreich erklärte, mit dem Abkommen auch Fachkräftemangel-Lücken mit indischen Arbeitskräften schließen zu wollen. Im Februar reist Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher nach Indien, da wird es wohl u.a. auch um dieses Thema gehen. Schallenberg war zuletzt 2022 in Indien.
Experte Schulz sagt, man müsse die Bemühungen westlicher Politiker um intensivere Beziehungen mit Vorsicht betrachten: "Die BJP steht in einer faschistischen Tradition." Das und die kritische Menschenrechtslage wird laut ihm bei der Annäherung europäischer Länder an Indien nicht ausreichend thematisiert. Das österreichische Außenministerium erklärte auf Nachfrage lediglich, man beobachte die Menschenrechtslage.
Umgekehrt wäre es laut Schulz aber auch ein Fehler, keine Abkommen mit Indien zu schließen: "Man sollte mit Indien verhandeln, aber gleichzeitig klare Linien ziehen."
4. Im April/Mai stehen Parlamentswahlen an. Wie demokratisch ist die „größte Demokratie der Welt“ tatsächlich?
Es gilt als ziemlich sicher, dass Modis BJP die Wahlen einmal mehr gewinnen wird. Es wäre seine dritte Amtszeit als Premier - aber kein unumstrittener.
In Indien gibt es Mehrparteienwahlen, in den vergangenen Jahren zeigten sich Experten, die Opposition, NGOs und Medien jedoch immer öfter und lauter besorgt, dass die indische Demokratie unter Modi zunehmend eingeschränkt werde und verfalle.
Auch laut dem Datenprojekt „Varieties of Democracy“ der Universität Göteburg wurde Indien in den vergangenen zehn Jahren stark autokratisiert. Es sei mittlerweile eine „elektorale Autokratie“ – faire Wahlen seien nicht vollständig gewährleistet. Auch Russland, Serbien und Ungarn werden in der gleichen Kategorie verortet. „Modi unterdrückt die Religionsfreiheit“, lautet einer der Hauptgründe.
Rund 80 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus, etwa 14 Prozent Muslime. Das Fundament von Modis Partei ist die Hindutva-Ideologie, nach der alle Inder eigentlich Hindus sind. Indische Muslime und auch Christen gelten demnach als Anhänger fremdländischer Religionen, die aus Egoismus nicht akzeptieren wollten, dass sie eigentlich Hindus seien.
Seit der Machtübernahme Modis 2014 hat hindu-extremistische Gewalt gegen die religiösen Minderheiten sprunghaft zugenommen. Kritiker werfen ihm vor, das laut Verfassung säkulare Indien in einen hindu-nationalistischen Staat verwandeln und besonders die muslimische Minderheit marginalisieren zu wollen.
"Bezeichnung 'Demokratie' früher passender"
Auch Schulz sagt: "Als ich Ende der 80er zum ersten Mal in Indien war, war die Bezeichnung ‚Demokratie‘ für Indien passender als jetzt." Indien sei auf dem besten Weg, eine "ethnische Demokratie" zu werden – also ein politisches System, das zwar nach einem demokratischen Prinzip funktioniert, eine bestimmte Ethnie aber besonders bevorzugt behandelt. Schulz spricht von einem "Pulverfass".
Die freie Meinungsäußerung wird ebenfalls zunehmend eingeschränkt. Der Experte sagt etwa, dass es für ihn als westlicher und auch Indien-kritischer Journalist in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden ist, überhaupt nach Indien reisen zu können.
5. Wie ist Indien geopolitisch einzuordnen? Will es ein zweites China werden?
Indien gilt als ein für alle Seiten schlüpfriger Partner, der vor allem auf sich selbst schaut. Schulz sagt: "Indien will das tun, was ihm selbst nützt. Es betrachtet sich als großes, eigenständiges Land, das im Grunde niemandem verpflichtet ist." Das hat u.a. damit zu tun, dass Indien sich als britische Ex-Kolonie nie mehr von Großmächten abhängig machen will.
Statt eines "neuen Chinas" - so wird Indien in Medien manchmal bezeichnet - will das Land Experten zufolge eher ein Gegengewicht zu China und anderen Großmächten werden, quasi einer von mehreren Polen in einer zunehmend multipolaren Welt. Die anderen sollen sich nach Auffassung Neu-Delhis mit Indien arrangieren, nicht umgekehrt. Und so ist Indien gleichzeitig Mitglied der BRICS-Staaten (mit Brasilien, Russland, China und Südafrika), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (u. a. mit China, Russland, Pakistan und dem Iran) und des Quad-Bündnisses (mit Japan, Australien und den USA).
Schulz erinnert an das westliche EU-Ölembargo gegen Russland, das aufgrund des russischen Einmarschs in die Ukraine gilt. Indien hat sich diesem nicht angeschlossen: "Indien hat gesagt: Wir brauchen dieses Öl für unser Land, das ist unser nationales Interesse", so Schulz. Zusammen mit China ist Indien heute der Hauptabnehmer russischen Öls.
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