Im Kriegsfall stehen die Europäer auf der Seite der Ukraine
Die Mehrheit der europäischen Bevölkerung hält einen Einmarsch Russlands in die Ukraine für wahrscheinlich. Und findet, dass auch die EU und nicht nur die NATO Kiew zu Hilfe kommen sollte.
Russlands militärischer Aufmarsch an der ukrainischen Grenze bewegt auch die europäische Bevölkerung: Die Mehrheit geht davon aus, dass Russland in diesem Jahr in die Ukraine einmarschieren wird, und ist der Meinung, dass sowohl die NATO als auch die EU Kiew zur Seite stehen sollten. Das geht aus einer Studie vom European Council on Foreign Relations (ECFR) hervor, durchgeführt in sieben EU-Mitgliedstaaten (Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Rumänien und Schweden).
"Die Daten zeigen so etwas wie ein geopolitisches Erwachen in Europa", sagt Mark Leonard, Direktor des ECFR, einer Denkfabrik in Berlin. "Die EU wurde stets als zerrissen, schwach und nicht-präsent im Ukraine-Konflikt wahr genommen, aber die europäische Bevölkerung ist sich einig: Sie stimmt überein, dass Wladimir Putin ein militärisches Eingreifen plant und dass Europa, mit der NATO gemeinsam, der Ukraine zu Hilfe eilen sollte."
Es stimme nicht länger, dass die Europäer Krieg für unmöglich und Frieden für selbstverständlich halten. "Sie sehen die Welt mittlerweile mehr in einem Vor-Kriegs- als in einem Nach-Kriegs-Zustand", liest Leonard aus den Daten.
Polen will unterstützen, Finnland hält sich zurück
Vor allem die polnische Bevölkerung (65 Prozent) zeigte sich entschlossen, dass ihr Land bei der Verteidigung der Ukraine unterstützen sollte. Polen hat, im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern wie Ungarn, selbst ein angespanntes Verhältnis zu Russland, diese Haltung ist demnach wenig verwunderlich. Verhalten zeigt sich hingegen das neutrale, (noch) Nicht-NATO-Mitglied Finnland: Nur 21 Prozent der Bevölkerung sind für ein Einmischen ihres Landes in den Konflikt.
Auf die Frage, wem die Bevölkerung am ehesten zutraut, ihre Interessen zu verteidigen, nannten zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung, ganz gleich in welchem Land, die EU. In Schweden, Finnland und Frankreich war das Vertrauen in die EU sogar größer als in die NATO.
Mehr Vertrauen in NATO-Gemeinschaft als in USA
Das Vertrauen in Washington ist hingegen gesunken; alle befragten Länder außer Polen und Rumänien sagten sogar, sie vertrauten Deutschland mehr als den USA. Das Vertrauen in die NATO besteht aber weiterhin. "Die NATO wird nicht länger gleichgesetzt mit den USA", implizieren die Studienautoren.
Zudem zeigte sich die Mehrheit der europäischen Bevölkerung bereit, "große" und potenziell langfristige Bedrohungen als Folge ihrer Verteidigung der Ukraine zu ertragen. Dazu gehören etwa Flüchtlingsströme, höhere Energiekosten, Cyberangriffe und die Gefahr militärischer Aktionen Russlands.
Vor allem die Energieabhängigkeit des eigenen Landes von Russland wird von der Mehrheit aller Länder (abgesehen von Schweden: 47 Prozent) als potenzielle Sicherheitsbedrohung gesehen.
Doch sind Polen, Schweden und Rumänien am ehesten der Meinung, dass es sich lohnen würde, im Falle einer Verteidigung der Ukraine diese Konsequenzen einzugehen.
"Nächsten Wochen werden entscheidend sein"
Ivan Krastev, Politologe, Europa-Experte und Mitgründer des ECFR, ist Mitinitiator der Online-Umfrage, die Ende Jänner 5.529 Menschen befragt hat. Er bilanziert das Ergebnis folgendermaßen: "Die öffentliche Meinung in Europa existiert. Sie ist ungeachtet der Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalstaaten ein Faktor, der die Entschlossenheit der EU stärkt und nicht schwächt, im Falle einer russischen Invasion in der Ukraine zu reagieren."
Und er appelliert an Putin: "Ein Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf Europa. Die nächsten Wochen werden entscheidend sein für die künftige europäische Sicherheit."
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