In der Finanzkrise 2008 waren die Regierenden überzeugt, dass man inmitten der Krise nicht die Regeln ändern dürfe. Man blieb also weitgehend bei strenger Budgetpolitik und Schuldendisziplin. Jetzt ist es genau umgekehrt. Die Devise lautet: Geld ausgeben. Die alten Regeln gelten nicht mehr.
In der Migrationskrise gab es zumindest Streit darüber, ob man die Grenzen schließen könne. In der Pandemie haben wir sie konsequent geschlossen, und es gibt Einigkeit darüber – die reicht weit über Covid hinaus. Denken Sie etwa an die polnisch-weißrussische Grenze. Auch die haben wir für Flüchtlinge geschlossen. Alles Änderungen, die in Wahrheit gigantisch sind, ohne dass wir wirklich darüber diskutiert haben.
Welche Grundsatzdebatten sollten wir also führen?
Ich glaube, das wichtigste Wort des Jahres 2022 wird Selbstständigkeit, also Souveränität, sein. Auf drei Ebenen. Erstens, die Souveränität des Individuums. Also die Frage, wie weit kann der Staat mit seinen Vorschriften gehen. Das betrifft auch Wirtschafts-, Steuer- oder Umweltpolitik, wo Entscheidungen getroffen werden, die das Leben des Bürgers drastisch verändern.
Zweitens, die Souveränität der Nationalstaaten. Es geht nicht um den Austritt von Staaten aus der EU, aber darum, dass viele Regierungen die Krise nützen werden, sich von Teilen der gemeinsamen EU-Politik zu verabschieden. Manche werden sich von der gemeinsamen Flüchtlingspolitik verabschieden, andere von der Klimapolitik. Auch der gemeinsame Markt wird in Zweifel gezogen werden. Protektionistische Gefühle werden immer stärker werden innerhalb der Nationalstaaten. Diese Fragmentierung des gemeinsamen europäischen Raumes geschieht vor unseren Augen.
Drittens, die Souveränität der EU: Die EU steht vor so vielen geopolitischen Herausforderungen. Die USA haben nicht mehr die Vormacht in Europa, wie wir es gewohnt waren. Ein Russland, das immer deutlicher daran interessiert ist, die Ereignisse von 1989 zu korrigieren. China, das immer feindlicher, aber wirtschaftlich immer präsenter wird in europäischen Wirtschaften. Wenn diese nicht gemeinsam und souverän auftreten, haben die kleineren europäischen Staaten gar keine Chance, zu bestehen.
Wie muss sich die EU verändern?
Die EU hat schwierige Fragen stets nach dem Motto behandelt: Entweder man stellt sie auf eine andere Weise oder gleich gar nicht, wenn man erkannt hat, dass die Antwort zu heikel ist. Jetzt aber stellen nicht mehr wir die Fragen. Die Fragen drängen sich uns auf, sie werden uns gestellt. Die Frage von Lockdowns etwa, ein schwerwiegender Eingriff. Trotzdem muss man rasch darüber entscheiden. Die EU kann sich in vielen Fragen nicht mehr durchmogeln. Wir werden 2022 noch öfter vor grundlegenden Entscheidungen stehen, in denen wir uns aber nicht so einfach zwischen gut und böse entscheiden können, sondern zwischen zwei Dingen, die uns beide sehr wichtig sind.
Welche Fragen etwa?
Deutschlands Grüne wollen sich hart gegenüber Russland zeigen, weil die Putin-Regierung ihrer Ansicht nach grundlegende Prinzipien der Menschenrechte verletzt. Gleichzeitig aber ist die ganze grüne Wende nicht möglich, ohne Nord Stream 2, die russisch-deutsche Gaspipeline. Mit der aber wird Putins Einfluss auf Europa einzementiert. Hohe Energiepreise, die die Folge eines Stopps von Nord Stream 2 wären, würden Deutschlands grüne Wende unmöglich machen.
Hat die Pandemie die EU also stärker gespalten?
Auf einer persönlichen Ebene der Betroffenheit, also Krankheit, Jobverlust etc., steht Osteuropa viel schlechter da als Westeuropa. Die Mehrheit war also betroffen. In Westeuropa sind etwa 70 Prozent der Menschen in ihrem persönlichen Leben von der Pandemie gar nicht betroffen. Trotzdem ist die Impfrate in Osteuropa viel niedriger, und das ist nicht wegen des Fehlens von Impfstoff.
Im ehemals kommunistischen Osteuropa gab es eine Tradition der vorgeschriebenen Impfungen, es gibt daher nicht diese historische Impfskepsis wie in Deutschland, oder Österreich. Die Gründe für die niedrige Impfrate liegen anderswo: Die Länder, die als erstes hart getroffen wurden, wie Spanien, Portugal, Italien, haben eine hohe Impfquote. Der Schock dieser ersten Welle steckte tief. Osteuropa wurden damals nicht sofort so hart getroffen.
In Osteuropa gibt es ein tief sitzendes Misstrauen gegen Regierungen und öffentliche Institutionen. Es ist also schwieriger, eine Botschaft auszuschicken, wie jene, dass die Menschen impfen gehen sollen. Es gibt auch eine völlig andere Zusammensetzung des medizinischen Personals. Durch die Massenabwanderung medizinischer Fachkräfte nach Westeuropa ist das verbleibende medizinische Personal viel älter und daher viel skeptischer gegen die neuen Arten von Impfungen.
Macht die Pandemie die Populisten stärker?
Die Populisten wurden zu Beginn der Pandemie als die großen Profiteure gesehen. Populismus aber nährt sich nicht aus Angst, sondern aus Ängstlichkeit, ein großer Unterschied. Ängstlichkeit ist ein diffuses Gefühl: Die Welt dreht sich in die falsche Richtung, alles läuft schief etc. Wer dieses Gefühl hat, der sucht jemanden, der sich für diesen Frust zum Sprachrohr macht, vorzugsweise den lautesten Typen, der sich anbietet. Wenn man wirklich Angst hat, sucht man niemanden, der dem Ärger eine Stimme verleiht, sondern man sucht Schutz. Deswegen haben die Regierungen am Anfang der Pandemie gepunktet.
Wie haben die Regierungen dieses Vertrauen verspielt?
Sie haben zu lange militärische Begriffe benützt: vom Krieg gegen das Virus gesprochen. Wer Krieg führt, will einen Sieg sehen. Es wird aber keinen Siegestag geben. Die Pandemie wird immer wieder zurückkehren. Die Regierungen haben die „Rückkehr der Normalität“ versprochen, aber wir werden nicht mehr zur Normalität zurückkehren. Diese Gesellschaft wird sich grundlegend ändern.
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