Hongkong: Die Infektionen nehmen ab, die Wut nimmt zu
„Freies Hongkong, Revolution jetzt!“, schallt durch ein Einkaufszentrum in der Hongkonger Innenstadt. Es mögen 100 Protestler sein, vielleicht auch 200, die auf dem Video zu sehen sind. Kein Vergleich zu den Hunderttausenden, die vor fast einem Jahr die Straßen der chinesischen Sonderverwaltungszone fluteten, um gegen das damals geplante Auslieferungsgesetz zu protestieren.
Das Coronavirus macht auch vor Protesten nicht halt – und die Protestler nicht vor Regeln: Vier Menschen dürfen sich derzeit in Hongkong versammeln, nur eine der vielen Maßnahmen, die von den Bürgern zumeist mit absoluter Disziplin eingehalten werden. Das Ergebnis: 1039 Infizierte, vier Tote seit Ausbruch der Pandemie. Seit 14 Tagen gibt es keine lokale Infektion mehr. Und das bei 7,5 Millionen Einwohnern auf engstem Raum.
Der Schock der SARS-Epidemie im Jahr 2003 steckt vielen Hongkongern noch in den Knochen, auch vor Corona gehörte die Maske zum normalen Erscheinungsbild. Bei dem Protest im Kaufhaus am 1. Mai führen einige Aktivisten Meterstäbe mit sich, um wenigstens die Abstandsregelungen einzuhalten.
„Nicht aufgegeben“
Bis vergangene Woche hatten die Proteste zumeist online stattgefunden. „Das war natürlich vor allem wegen des Virus, aber die Menschen in Hongkong haben ihren Kampf für mehr Demokratie nicht aufgegeben“, sagt die bekannte Demokratie-Aktivistin Agnes Chow zum KURIER.
Einige Hongkonger pflanzten etwa eigene Lebensmittel in Hinterhöfen oder vor der Stadt, um dadurch nicht mehr von chinesischen Produkten abhängig zu sein.
Vor drei Wochen hatte die Polizei 15 führende Aktivisten festgenommen. Unter ihnen befanden sich unter anderem der Demokratieaktivist Martin Lee sowie amtierende Abgeordnete.
Den Festgenommenen wird die Organisation und Teilnahme an illegalen Versammlungen vorgeworfen. Allerdings nutzten die Behörden die Zeiten des Stillstands auch für die Auswertung von Handydaten oder Überwachungskameras – mittlerweile wurden 7.000 Protestler in Gewahrsam genommen.
Mit Benzin übergossen
Unter anderem zwei Teenager, die beschuldigt werden, im vergangenen Jahr einen 70 Jahre alten Mann mit einem Steinwurf getötet zu haben. Andere hatten einen Mann, der sich scheinbar positiv zur chinesischen Regierung geäußert hatte, mit Benzin übergossen und angezündet.
Die Proteste erreichten im November vergangenen Jahres ihren gewaltsamen Höhepunkt. Dennoch konnte das prodemokratische Lager bei den Bezirkswahlen wenige Wochen später einen Erdrutschsieg erringen.
Ein Alarmsignal für China, das weder vergisst noch vergibt. In der Coronakrise scheint Peking den weltweiten Fokus auf die Krankheit auszunutzen und sich in Hongkong zu revanchieren.
Denn nicht nur die Festnahmen haben laut Chow zu neuen Protesten in der Öffentlichkeit geführt: „Außerdem hat das Pekinger Verbindungsbüro versucht, direkten Einfluss auf den Legislativrat (das Parlament Hongkongs) zu nehmen, was ein Verstoß gegen die Regelung ,ein Land, zwei Systeme‘ war. Das war ein Akt der politischen Unterdrückung und hat Wut und Unzufriedenheit einmal mehr vergrößert“, sagt sie.
Wahlen im September
Das Verbindungsbüro in Hongkong hatte prodemokratische Abgeordnete unter Druck gesetzt und damit die Wahl des Vorsitzenden im Hongkonger Legislativrat und damit den Beschluss wichtiger Gesetze verzögert. Eine Einmischung, die der Verfassung widerspricht und damit ein weiterer Grund für Proteste ist. Im September wird dieser Legislativrat neu gewählt – und bis dahin wird Hongkong neue Proteste gesehen haben.
„Wir mussten unseren Protest wieder auf die Straße hinaustragen“, schreibt Aan, ein Hongkonger Student, dem KURIER. „Während das Virus umgeht, umgeht das Pekinger Verbindungsbüro unser Gesetz. Dagegen müssen wir kämpfen.“
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