Begonnen hat die Demonstration an diesem Samstag äußerst friedlich. Da der ursprünglich geplante Marsch auf das Pekinger Verbindungsbüro verboten und abgesagt wurde, hatten sich die Demonstranten in einem Stadion getroffen – zu einer „Gebetswanderung für Sünder“. Religiöse Veranstaltungen dürfen in Hongkong nicht verboten werden. „Singt dem Herrn ein Halleluja“, ertönte aus Tausenden Kehlen.
„Ich bin hier, weil ich für eine sichere Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder kämpfe. Sie dürfen nicht in chinesischen Verhältnissen leben“, sagte eine ältere Dame zum KURIER. Alle Altersgruppen sind vertreten, demonstrieren friedlich und ziehen Richtung Innenstadt.
Vor dem Parlament sind es hauptsächlich Jugendliche und Studenten, die ihrer Wut freien Lauf lassen. Wieder und wieder rennen sie gegen die Barrikaden an, reißen Pflastersteine aus dem Boden, versuchen, die Polizisten zu treffen. Später werden es Molotow-Cocktails sein. Die Polizisten harren stoisch aus.
Am Vorabend wurde einer ihrer Kollegen nach Dienst von Unbekannten mit Messern niedergestochen. Er hat zwar überlebt, doch der Schock sitzt tief.
Dennoch haben die Beamten vor dem Parlament angemessen und verhältnismäßig agiert. Mit dem Lautsprecher ruft ein Polizist den Demonstranten zu, das Gelände zu verlassen: „Dies ist eine illegale Veranstaltung. Verlassen Sie dieses Gelände. Letzte Warnung, oder wir setzen wieder Tränengas ein!“
Die Menge bleibt. Ein Demonstrant windet sich – seine Gasmaske muss undicht sein. In Panik reißt er sie sich vom Kopf und atmet dadurch nur noch mehr Tränengas ein. Sofort eilen Demonstranten zu ihm, ziehen ihn weg und versorgen ihn mit Wasser. Als sich der Nebel verzieht, rollt ein Wasserwerfer an, spült einige Menschen förmlich weg.
Als der große Demonstrationszug wenige Stunden zuvor in Richtung des Sitzes der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam unterwegs war, erklang noch vereinzelt das Halleluja, langsam aber sicher abgelöst durch: „No China, Free Hongkong“. Die Wut in den Stimmen wird hörbarer. Es sind Abertausende, die sich durch die Hongkonger Straßen bewegen. Unaufhaltsam, eine alles verschlingende Flut.
So einig sich die Demonstranten mit ihren Fünf Forderungen (mehr dazu siehe unten) sind, so verschieden sind ihre politischen Ansichten: „Herr Trump, wenn Sie mir zuhören, bitte beschließen Sie das Gesetz. Das wäre den Hongkongern eine große Hilfe, ebenso wie für den Krieg gegen den Kommunismus“, sagt ein Mann, eine US-Flagge schwenkend. Laut dem Gesetz, von dem er spricht, soll Hongkong von den USA sanktioniert werden, wenn die Regierung „Freiheit und Demokratie“ in Hongkong nicht mehr gewährleisten könne.
Das Gesetz wird im September im US-Kongress diskutiert. Andere sitzen am Straßenrand und trommelten auf ihren Bongos, ein Priester marschiert in Soutane, den Kopf leicht gesenkt. Nach wie vor stehen einige Hundert Demonstranten vor dem Parlament, es scheint eine Pattsituation zu sein. Eine Stunde später werden sie eine Barrikade aus Feuer errichten, die Polizei wiederum das Feuer mit Gummigeschossen eröffnen. Und letztendlich die Demonstranten vertreiben.
Auf der Hauptstraße daneben marschiert die große Mehrheit weiterhin friedlich, nach wie vor ist der Zug kilometerweit. Hin und wieder ertönen Parolen wie „Die Generation der Revolution“, oder „Freiheit für Hongkong“. Manche sind vom vielen Schreien so heißer, dass sie nur noch krächzen können, doch sie machen weiter.
Die Nacht ist schon hereingebrochen, als die Polizisten einige Straßen weiter Stellung beziehen, einen Schildwall bilden. Die Demonstranten haben sich auf mehrere Orte der Stadt aufgeteilt, überall kommt es zu Ausschreitungen. Einige Meter von den Polizisten lodert eine brennende Barrikade. Dahinter skandiert eine Handvoll Vermummter Parolen. Auf ein Signal setzen sich die Polizisten in Bewegung, stürmen die Straße, nehmen einige Männer gefangen. „Es ist die Gewaltspirale, die mir Sorgen macht“, sagt wenig später ein Demonstrant zum KURIER. „Wir können nicht zurück, sie können nicht zurück. Das bedeutet, brennen wir, brennen wir alle. Und damit ganz Hongkong.“
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