2003 wurde Bosnien-Herzegowina erstmals der EU-Beitritt in Aussicht gestellt. 19 Jahre später wird ein wesentlicher Meilenstein erreicht: der Kandidatenstatus. Nachdem die EU-Kommission ihn bereits im Oktober empfohlen hatte, verständigten sich am Dienstag auch die EU-Europaminister darauf. Offiziell bestätigt werden soll die Entscheidung dann beim EU-Gipfel am Donnerstag.
Der KURIER befragte den Österreicher Johann Sattler, der seit 2019 Sonderbeauftragter und Botschafter der EU in Sarajewo ist, unter anderem dazu, ob der Status verdient ist und ob er mehr als ein Papiertiger ist.
KURIER:Am Donnerstag dürfte Bosnien-Herzegowina nach 19 Jahren der Kandidatenstatus verliehen werden. Der richtige Schritt?
Johann Sattler: Es ist der richtige Schritt zum richtigen Zeitpunkt. Es zeigt, dass wir es ernst meinen mit der Beitrittsperspektive für alle Länder des Westbalkans inklusive Bosnien-Herzegowina.
Auch die traditionell erweiterungsskeptischen Länder Frankreich, Dänemark und die Niederlande tragen den Kandidatenstatus mit. Warum plötzlich?
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erleben wir eine neue Einigkeit unter den EU-Mitgliedern in der Erweiterungspolitik. Wir haben es geschafft, die Verhandlungen mit Albanien und Mazedonien einzuleiten, es gibt eine Perspektive für die Visaliberalisierung für den Kosovo, nun der Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina. Das ist auch die Stoßrichtung des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell.
Ukraine brachte Bewegung
2016 stellte Bosnien den offiziellen EU-Beitrittsantrag, Brüssel reagierte damals mit einer Liste an Reformen, die das Land dafür umzusetzen habe. Erst seit der Ukraine im Sommer symbolisch der Kandidatenstatus verliehen wurde, rückte die EU davon ab.
Nur ein erster Schritt
Der Kandidatenstatus ist noch kein fixer Beitritt, die Türkei hat ihn z. B. seit 1999. Ethnische Konflikte prägen Bosnien, größtes Problem ist aber die Abwanderung seiner (vor allem jungen) Bürger.
Wie sehr hat sich Bosnien-Herzegowina den Status "verdient"?
Im Mai 2019 hat die EU-Kommission konkrete "Schlüsselprioritäten" genannt, die vor der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu erfüllen seien. Darunter fallen unter anderem Reformen im rechtsstaatlichen Bereich, der Kampf gegen die systemische Korruption, die Stärkung von Institutionen und Minderheitenrechten und der Aufbau einer guten staatlichen Verwaltung. Es wurden zwar wesentlich weniger Reformen umgesetzt, als wir erhofft und erwartet haben, doch ich sehe den Kandidatenstatus auch als wichtigen Anreiz für weitere Reformen, die dann die neuen Regierungen, die sich gerade auf allen Ebenen bilden (Bosnien-Herzegowina hat im Oktober neu gewählt, Anm.), angehen müssen. Gleichzeitig ist der Status auch aus geopolitischer Sicht wesentlich. Er ist ein klares Bekenntnis für die Integration des Balkans in die EU.
Ändert sich durch den Status auch die finanzielle Unterstützung, die Bosnien-Herzegowina von der EU erhält?
Nein. Die Verleihung des Kandidatenstatus ist keine weitere finanzielle Bürde für die EU-Mitgliedsländer. Wichtig ist dabei auch zu betonen: Die finanzielle Unterstützung vor und nach dem EU-Beitritt ist etwa eins zu zehn.
Ist ein EU-Beitritt in der Bevölkerung überhaupt noch gewünscht, nach all den Jahren auf der Wartebank?
Es ist nach wie vor eine große Mehrheit der Bevölkerung, etwa 75 Prozent, dafür, etwas weniger im serbischen Landesteil, etwas mehr in der Föderation. Es gibt keinen Plan B für Bosnien-Herzegowina. Das Angebot von Drittstaaten-Akteuren, sei es Russland, die Türkei, die Golfstaaten oder China, kommt nicht annähernd an das heran, was die Europäische Union zu bieten hat: eine funktionierende Marktwirtschaft, hohe menschenrechtlichen Standards, ein soziales Sicherheitsnetz und Arbeitsmöglichkeiten.
Stichwort Arbeitsmöglichkeiten: Bosnien-Herzegowina kämpft mit einer enormen Abwanderung der jungen Bevölkerung. Besteht nicht die Gefahr, dass der EU-Beitritt diese verstärkt?
Das glaube ich nicht. Es stimmt, die Abwanderung ist enorm. Ich glaube, dass jedes Signal, dass wir es mit dem Land ernst meinen, den Menschen eine Perspektive und einen Grund zum Bleiben gibt. Das Land hat großes Potenzial. Sowohl als Zielland für Investitionen, aber auch für den Tourismus.
Welche Botschaft ist die Verleihung des Kandidatenstatus an die anderen Balkanstaaten?
Unser Ziel müssen Fortschritte für die gesamte Region sein. Gleichzeitig gilt aber auch: Wettbewerb belebt das Geschäft. Dass Bosnien-Herzegowina nach erfolgreichen Reformen den Kandidatenstatus erhält, ein Signal für die gesamte Region – ebenso wie der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien.
Muss angesichts eines EU-Beitritts Bosnien-Herzegowinas nicht auch das Amt des Hohen Repräsentanten diskutiert werden, seit dem Krieg eine internationale Hoheitsmacht über der Demokratie im Land?
Klar ist, dass diese internationale Supervision nicht mit einem EU-Beitritt vereinbar ist. Aber diese Diskussion ist eine Frage des Zeitpunkts. Dieser ist momentan noch nicht da, aber er wird kommen.
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