Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?
Seit Wochen schon lieferte sich der Wagner-Chef Prigoschin einen offenen Machtkampf mit der russischen Militärführung, allen voran mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Der Streit eskalierte zuletzt wegen eines mutmaßlichen Angriffs russischer Soldaten auf Wagner-Söldner.
Was glaubte Prigoschin, erreichen zu können?
Für die Beweggründe Prigoschins gab es laut Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer drei Möglichkeiten: „Es kann durchaus sein, dass das Ganze abgesprochen ist und Putin einen Grund liefert, die derzeitige Militärführung loszuwerden. Es kann aber auch sein, dass Prigoschin wirklich angezählt ist, dies realisiert hat und nun eine Verzweiflungstat begeht. Oder aber, dass das System so zerrüttet ist, dass er seinen Machtbereich ausweiten könnte – und nun alles auf eine Karte setzt.“
Hatten die Söldner eine Chance gegen die Armee?
Für Reisner war offensichtlich, „dass Wagner alleine keine wesentliche Gefahr für das russische Militär darstellt. Sieht man sich Ausrüstung und Gerät an, wird klar, dass sie damit nicht imstande sind, die russische militärische Führung zu stürzen. Aber entscheidend war immer, wie sich das russische Militär verhalten würde“, sagte er zum KURIER.
Stand Samstagmittag gab es keine Anzeichen dafür, dass sich russische Verbände oder Teileinheiten auf Prigoschins Seite schlagen würden - und so blieb es auch bis zum Rückzugsbefehl Prigoschins. Es existiert lediglich ein Foto von 180 russischen Grenzsoldaten, die sich Wagner ergeben hatten.
Was heißt das jetzt für den Krieg in der Ukraine?
Ob und wie die aktuellen Entwicklungen die ukrainische Gegenoffensive beeinflussen, ist noch nicht abzuschätzen. „Derzeit sieht es allerdings nicht so aus. An der Front ist de facto alles unverändert“, so Reisner am Samstag. Am Nachmittag gab die Ukraine jedoch an, erstmals kleinere Gebiete im Donbass zurückerobert zu haben, die Russland seit 2014 kontrollierte.
Warum hat Prigoschin seine Soldaten plötzlich wieder zurückbeordert?
Der Wagner-Chef hat bei Vermittlungsbemühungen des belarussischen Präsidenten Lukaschenko mit dem Segen Putins Sicherheitsgarantien und Straffreiheit für sich und seine Truppen erhalten. Daraufhin pfiff Prigoschin seine Soldaten zurück. Prigoschin ist allerdings in Russland nicht länger erwünscht, er muss ins Exil nach Belarus gehen. Doch was das Ziel Prigoschins ist oder war, ist weiter unklar.
Was, wenn Prigoschins Putschversuch Erfolg gehabt hätte?
Selbst, wenn es Prigoschin gelungen wäre, Putin zu stürzen, hätte das nicht geheißen, dass er auch den Machtapparat des langjährigen Präsidenten an sich reißen könnte. Dem britischen Universitätsprofessor Sam Greene vom Londoner King’s College zufolge sei es in autokratischen Regimen meist weniger wichtig, „wer an der Macht ist, sondern wie er oder sie an die Macht gelangt“.
Eine „reibungslose Übergabe“ von Putin an Prigoschin schien angesichts der beidseitigen Aussagen sowieso ausgeschlossen, im Fall einer „chaotischen Machtübernahme“ durch Prigoschin hätte er „um die Loyalität wichtiger Teile des Systems Putin kämpfen und/oder verhandeln müssen, was entweder zu größerer Eigenständigkeit oder zu einer Menge Repression führen würde“, so Greene auf Twitter.
➤ Mehr dazu: Mögliche Szenarien für Russland, sollte Prigoschin Erfolg haben
Hätten Russlands Eliten Prigoschin akzeptiert?
An die Macht gekommen, hätte Prigoschin erst beweisen müssen, „dass er der Elite denselben Reichtum und dieselben Privilegien bieten kann, die sie derzeit genießt – wenn nicht sogar mehr“, so Greene.
Der Professor sieht „unvorhersehbare Konsequenzen“, sollte sich die Elite nicht auf einen neuen Machthaber einigen können oder gespalten sein, meint aber: „Seltsamerweise ist eine gespaltene Elite die wahrscheinlichste Gelegenheit für eine Art demokratische Öffnung.“
In der Hoffnung, den neuen Mann an der Spitze herauszufordern, könnten verschiedene Fraktionen versuchen, ihren Führungsanspruch über Wahlen vom Volk legitimieren zu lassen. Russlands Medien- und Parteienlandschaft würde somit vielfältiger, aber nicht zwingend demokratischer werden.
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