„Hättet uns nicht wütend machen sollen“: Polen im Ausnahmezustand
Motorradlärm, Trillerpfeifen und ein lautes „F... die PiS“ (die Regierungspartei) dominieren die Warschauer Innenstadt bei der Metrostation „Heiligenkreuz“. Auf Schildern von Demonstrantinnen steht „Mein Körper, mein Recht“ oder „Ihr hättet uns nicht wütend machen sollen“.
Am Mittwoch rief die Organisation „Allgemeinpolnischer Streik der Frauen“ dazu auf, die Arbeit niederzulegen, um gegen das faktisch totale Abtreibungsverbot zu demonstrieren. „Wir protestieren, bis die Regierung die Entscheidung zurücknimmt“, sagt Kasia, eine junge Übersetzerin, die mit zwei Freundinnen gekommen ist.
Tausende demonstrieren
Seit dem Richterspruch befindet sich Polen im Ausnahmezustand, täglich demonstrieren Tausende in den großen Städten. Mittlerweile trauen sich auch die Frauen in der Provinz auf die Straße – ein Novum.
Für Freitag ist eine Großdemonstration in Warschau geplant.
Formal war es das Verfassungsgericht, das vergangenen Donnerstag verkündet hat, Abtreibung künftig auch bei schwerer Fehlbildung des Fötus zu verbieten. Schwangerschaftsabbrüche sind demnach nur noch nach Vergewaltigung, Inzest und bei Lebensgefahr der Schwangeren erlaubt – diese machen jedoch nur zwei Prozent der rund 1.000 offiziellen Abtreibungen pro Jahr aus.
Beschmierte Kirchen
Als eigentlicher Verantwortlicher für das Urteil gilt Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der unter Druck der Katholischen Kirche und des rechtsklerikalen Milieus steht. Vermutlich rechnete das nationalkonservative Regierungslager aufgrund der Pandemie (mehr als 18.000 Neuinfektionen am Mittwoch) nicht mit einem solchen Widerstand.
Einige Politiker, darunter Regierungschef Mateusz Morawiecki, versuchten es in den letzten Tagen mit beschwichtigenden Worten. Nicht so Kaczynski. Als Aktivistinnen eine Messe störten und auch Kirchengebäude beschmiert wurden, ergriff er am Dienstagabend erstmals das Wort und rief dazu auf, die „die Kirchen um jeden Preis zu verteidigen“. Die Proteste nannte er „nihilistisch“, sie würden Polen als Nation samt seiner Geschichte zerstören wollen.
Kaczynskis Meinung nach seien die Demonstranten „geschult“ worden. Im Parlament beschimpfte er die protestierenden weiblichen Abgeordneten als „russische Agenten“. Borys Budka, Chef der oppositionellen „Bürgerplattform“, wertete dies als einen „Aufruf zum Bürgerkrieg“.
Frust über Reformen
Den Demonstrantinnen, denen sich auch viele Männer anschließen, geht es nicht mehr allein um Abtreibung. Der „Streik der Frauen“ fordert auch freie Gerichte . Die PiS hat seit 2015 die Justiz der Regierung untergeordnet, dies betrifft auch das Verfassungsgericht, das primär mit loyalen Juristen besetzt ist.
Der Frust über die Gesellschaftsreform, die die Nationalkonservativen auch in Schulen und öffentlich-rechtlichen Medien betreiben, scheint sich nun bei einem Teil der Demonstrierenden in Vandalismus und Gewalt zu entladen.
Mittlerweile setzt die Regierung die Militärpolizei ein, um die überlastete Polizei zu unterstützen. Übersetzerin Kasia fürchtet Gewalt trotz allem hauptsächlich vonseiten der Nationalisten und PiS-Anhänger, die die Kirchen verteidigen wollen.
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